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Der Brückenbauer: Fazil Say im Porträt

Musik, die ganze Erdteile verbinden will
Christoph Irrgeher
Fazil Say

Veröffentlicht: 07/03/2022

Ein Klavier-Virtuose mit großem Herz und humanitären Ambitionen. Am Blog portraitiert Christoph Irrgeher, Redakteur der Wiener Zeitung, den türkischen Komponisten Fazil Say und führt an sein künstlerisches Œuvre heran. Einblicke in dessen Leben und Schaffen sind ebenfalls zu lesen. Gemeinsam mit der Camerata Salzburg ist er am Ostersonntag 2022 zu Gast im Auditorium in Grafenegg.

Der türkische Pianist und Komponist Fazil Say gastiert am Ostersonntag mit Musik von Mozart und aus eigener Feder in Grafenegg: ein Porträt.

«Es gibt so viele Gründe, keinen Krieg zu beginnen. Der erste ist, an die Menschen zu denken», postete Fazil Say am 24. Februar 2022 auf Twitter. Ein Satz, der normalerweise ein Gemeinplatz wäre. Seit jenem rabenschwarzen Donnerstag ist er es leider nicht mehr: Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine hat den Krieg zurück nach Europa gebracht, hat ganze Städte in Schutt und Asche gelegt und die Selbstverständlichkeiten einer humanistischen Gesinnung torpediert.

Ein musikalischer Botschafter

Dass sich Fazil Say dazu äußert, ist keine moralische Pflichtübung eines Künstlers mit starker Social-Media-Präsenz. Der türkische Klavier-Virtuose und Komponist ist ein glühender Humanist und Brückenbauer – mit Wort und Tat, vor allem aber natürlich mit den Mitteln der Musik. In seiner Heimat gilt Say als renommierter Fürsprecher westlicher Kunstmusik; im Ausland überrascht er mit seinen eigenen, türkisch gefärbten Stücken – ein Botschafter zwischen Ost und West. Sein ganzes Leben, sagte der 52-Jährige einmal, basiere auf der interkulturellen Verständigung. In dieser Mission ist Say nun auch am 17. April 2022, am Ostersonntag, im Auditorium von Grafenegg zu erleben: Gemeinsam mit der Camerata Salzburg (Leitung: Gregory Ahss) wird er zwei eigene Werke auf Wohlbekanntes von Mozart treffen lassen.

Dass Fazil Say den Austausch schätzt, ist ihm bei Konzerten schon körperlich anzusehen: Als Pianist dreht er sich gern hier und da dem Publikum zu, gestikuliert mit dem gerade freien Arm oder lässt die Lippen demonstrativ zur Musik beben. Der Mann aus Ankara ist, kurz gesagt, eine Erscheinung auf der Bühne. Und: Er ist einer, der das Publikum mit seinen eigenen Partituren eher niveauvoll unterhält als zu überfordern. Kaum ein zeitgenössischer Komponist mischt so unbekümmert romantische Akkordkaskaden mit filmmusikalischen Zutaten, östliche Skalen mit einer Prise West-Moderne. Seine pianistische Paradezugabe «Black Earth» schwankt zwischen meditativer Orientalistik und Rachmaninow‘scher Melancholie, sein Orchesterstück «Das verschobene Haus», zu Ostern in Grafenegg zu hören, pendelt zwischen einem exotischen gefärbten Neoklassizismus und hämmernden Strawinski-Rhythmen.

Natürlich: Diese tönenden Kaleidoskope hätten einen schweren Stand auf hiesigen Avantgarde-Festivals, also jenen Veranstaltungen, die sich den atonalen Standards der europäischen Nachkriegsmoderne verpflichtet haben. Doch Fazil Say arbeitet nicht mit dem Anspruch, eine kontinentale Nischenästhetik zu bedienen, seine Musik will lieber ganze Erdteile verbinden. Bisweilen laden seine Stücke zu klingenden Weltreisen ein; das Klavierkonzert «Silk Road» führt mit schillernden Sound-Panoramen von Tibet bis nach Anatolien.

Als Teenager nach Deutschland geholt

Fazil Say hat bereits als Fünfjähriger mit dem Klavierspielen und Improvisieren begonnen. Mit 15 Jahren studiert er am Konservatorium von Ankara und fiel ausländischen Gästen auf: Der US-Pianist David Levine und der deutsche Komponist Aribert Reimann stießen bei einem Workshop auf den Teenager und holten ihn zwei Jahre später an die Hochschule von Düsseldorf. Bis zum Alter von 25 studierte Say in Deutschland, verfeinerte seine Fähigkeiten als Musiker, erlernte die Landessprache und sog das Geistesklima der Bundesrepublik in sich auf. Ein früher Erfolg stellte sich 1994 in New York ein, als der Nachwuchspianist die Young Concert Artists International Auditions gewann. Die Karriere nahm Fahrt auf: Die Klassikwelt begann sich für einen jungen Mann zu begeistern, der sich geschmeidig zwischen den Kulturräumen zu bewegen schien.

Allerdings: Das ging dann doch nicht immer problemlos für Say vonstatten. Wiederholt eckte er mit seinem kritischen Geist in der Heimat an. 2007 schlug ein Interview mit der «Süddeutschen Zeitung» Wellen: Der Musiker hatte die Menschenrechtslage in der Türkei getadelt und mit seiner Emigration kokettiert. Ein paar Jahre später zog er den Zorn der Sittenwächter des Landes auf sich: Der Pianist hatte eine Reihe Tweets über religiöse Scheinmoral verfasst und über islamische Verse gespottet. 

Die Konsequenz: Eine Haftstrafe von zehn Monaten auf Bewährung wegen Blasphemie, ausgesprochen im Jahr 2013. Das Höchstgericht hob das Urteil zwar 2015 mit der Begründung auf, Says Aussagen seien durch das Recht auf Meinungsfreiheit in der Türkei gedeckt gewesen. Die Affäre setzte dem Künstler nichtsdestotrotz stark zu. «Meine Familie und ich hatten große Sorgen», erzählte er später in einem Interview mit der «Wiener Zeitung». «Es waren ermüdende, unfaire Jahre, in denen ich mich politisch benutzt fühlte.»

Verehrer des «Jahrtausend-Genies» Mozart

Nach dem Ende der Affäre verschwand der Name Say zwar aus den politischen Feuilletons – in den führenden Konzerthäusern blieb er aber eine Konstante. Der mondäne Musiker war längst nicht mehr auf Schlagzeilen angewiesen, sondern eine feste Größe: ein lieber Bekannter, der seinem Publikum stets auch Überraschendes vermittelt. 

In dieser Hinsicht versteht es Say nicht nur, mit seinen eigenen Partituren zu verblüffen; er kann auch bei Klavierabenden mit klassischem Repertoire frappieren. Er hält sich «hundertprozentig» an den Notentext, sagte er in einem Interview mit «Concerti». «Aber die Noten machen nur 20 Prozent der Musik aus. Die Umgebung, die Akustik, meine Seelenlage, all das ist jeden Abend anders.»

Ein sonniger Gemütszustand führt bei Say jedenfalls zu Lesarten von erfrischender Fröhlichkeit – und mitunter zu einer Lebendigkeit, als entstünde die Musik soeben erst aus einer überschwänglichen Laune des Moments. Man hört das etwa in einer Aufführung von Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 467: Say verwandelt den Schlusssatz in einen Tummelplatz der Pointen, setzt kesse Akzente und neckische Pausen, kostet das Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Klavier und Orchester lustvoll aus.

Überhaupt ist ihm Mozart ein Anliegen: Say nennt ihn ein «Jahrtausend-Genie», hat die Klaviermusik des Salzburgers seit seiner Jugend in den Fingern und bekam 2017 für die Gesamteinspielung der Sonaten den Echo-Klassik verliehen. Zudem hat er sich mit Mozart als Komponist befasst, zum 250. Geburtstag des Klassikers Auftragswerke für die Salzburger Festspiele und das Wiener Mozartjahr 2006 beigesteuert. Erwähnenswert ist auch eine Petitesse aus eigener Feder, nämlich eine Art Jazz-Fassung des «Türkischen Marsch», die heiter zwischen den Schubladen Klassik, Ragtime und Swing hin- und her hüpft. Wobei an dieser Stelle anzumerken ist: Es wäre verfehlt, Fazil Say auch einen Jazzer zu nennen, wie das manche tun. Say, das sagt er selbst, spielt in seinen Konzerten ausnotierte Musik, keine Improvisationen.

Konzert der Nationen

Was man Say dagegen nennen sollte, ist einen Mann mit Engagement. Es kommt nicht von Ungefähr, dass ihn die EU zum Botschafter des interkulturellen Dialogs 2008 ernannt hat und er 2016 den internationalen Beethoven-Preis für Menschenrechte in Bonn erhielt. Say will die Welt verbessern und wirft sein Prestige gegebenenfalls in die Waagschale – nicht nur, wenn es um humanitäre Themen geht: Als eine kanadische Firma in der Türkei Rodungen vornahm, gab er spornstreichs ein Konzert im bedrohten Wald des Ida-Gebirges und verfasste für den Anlass auch passende Noten.

In der Hauptsache bleibt Say aber natürlich Musiker. Einer, der die historischen Meisterwerke pflegt, der das Repertoire aber zugleich anreichern will. Der Katalog der sogenannten «Klassik» sei längst nicht abgeschlossen, meint Say, der Reichtum dieser Kunstform würde weiterwachsen – vor allem im Dialog mit außereuropäischen Stilen. 

Das einst so europäische Genre der klassischen Musik, sagt er, sei mittlerweile eine «weltweite Kultur». «Und die einzelnen Kulturen aus den einzelnen Ländern wollen natürlich mitmischen und sich etablieren. Die nächsten zehn, zwanzig Jahre werden dadurch bestimmt sein, dass Europa durch die klassische Musik andere Kulturen kennenlernt.» Bleibt zu hoffen, dass sich diese Vision eines harmonischen Miteinanders verwirklicht – in den Konzertsälen und außerhalb.