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Naturgewalten im isländischen Metakosmos

Die gewaltigen Naturspektakel Islands in einem musikalischen Stück vereint
Christian Heindl
Anna Thorvaldsdóttir

Veröffentlicht: 10/01/2022

Im Blogbeitrag führt Musikwissenschafter und Journalist Christian Heindl an das Stück «Metacosmos» der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdóttir heran.

Die gewaltigen Naturspektakel Islands in einem musikalischen Stück vereint. Die isländische Komponistin Anna Thorvaldsdóttir konstruierte ihr Stück «Metacosmos» um das natürliche Gleichgewicht zwischen Schönheit und Chaos. Im Blogbeitrag führt Musikwissenschafter und Journalist Christian Heindl an jene Komposition heran, indem er einen geschichtlichen Bogen hin zu den Interpretationsmöglichkeiten spannt. Einblicke und Anekdoten zur pittoresken Natur wie der einmaligen Musiklandschaft Islands ergänzen das Ganze. Zu hören ist «Metacosmos» am 29. Jänner 2022 im Auditorium in Grafenegg.

 Eigentlich ist ja das Verhältnis zwischen Island und Österreich seit Jahrhunderten ein denkbar entspanntes. Wenn überhaupt, dann gab es eher Trübungen der im wahrsten Sinn des Wortes atmosphärischen Art – etwa, wenn das unkontrollierte Aschespucken des Eyjafjallajökull im Jahr 2010 den Flugverkehr auch über unserem Land lahmlegte oder das spontane Virusverteilen zu Beginn der ersten Corona-Welle 2020, das ausgerechnet von Tirol aus auch eine hohe Zahl an hier Winterfreuden zelebrierenden Isländer:innen mit ungewollter Heimtücke Infektionen bescherte. Besonders spannungsfrei geht es auf musikalischer Ebene zu. 

Von isländischer Musik wissen durchschnittliche österreichische Musikfreund:innen ohnedies nur dann etwas, wenn sie im Bereich der Popmusik ihre klingende Freude an Frau Björk gefunden haben (freilich nur gelegentlich zur Kenntnis nehmend, woher diese eigentlich stammt). Isländische Volks- und Konzertmusik sind selbst Expert:innen der jeweiligen Richtungen selten vertraut. Umgekehrt sieht es zwangsläufig schon einmal ein bisschen anders aus, wenn man voraussetzt, dass ein großer Teil des Kanons der abendländischen Musikgeschichte in Österreich wurzelt oder hier Wohnsitz gefunden hat und somit die entsprechenden Namen von Haydn und Mozart bis Johann Strauß und all die anderen auch in Island zum Alltagsrepertoire gehören.

Österreichische Pionier:innen im Nordatlantik

Was man nun aber doch mit ein bisschen Stolz auf die heimische Expertise in der Beherrschung und Weitergabe des klingenden Handwerks feststellen kann, ist, dass es partout Österreicher:innen waren, die im 20. Jahrhundert wesentlich zum Aufbau eines nach europäischen Qualitätsmaßstäben funktionierenden Musikwesens auf der Insel im Nordatlantik beitrugen. Da ließen die Isländer:innen dann auch wiederum eine für die nordländische Mentalität eher typische, gewissermaßen paritätische Neutralität gegenüber der politischen Entwicklung in Zentraleuropa walten und beschäftigten abwechselnd den bereits seit 1932 illegal der NSDAP angehörenden Wiener Franz Mixa (1902–1994) und den diesem kollegial eng verbundenen Emigranten vor dem Faschismus Viktor Urbancic (1903–1958), auch er ein gebürtiger Wiener. 

Mixa ging 1929 erstmals nach Reykjavík, wurde dort Musikdirektor und mitbegründete 1930 das Konservatorium («Tónlistarskólinn»). Während er im «Anschluss»-Jahr 1938 endgültig in die Heimat zurückgekehrt war, um sich hier einer erfolgversprechenden Karriere zu widmen, verließ Urbancic mit seiner Familie (seine Frau Melitta war jüdischer Abstammung) diese – ebenso endgültig. In der Folge war Urbancic als zentrale Persönlichkeit am Aufbau eines geregelten musikakademischen Betriebs in der Hauptstadt Reykjavík beteiligt. Er war denn u. a. auch 1951 der Dirigent der ersten Opernaufführung in Island: «Rigoletto» von Giuseppe Verdi.

Geyser in Iceland
Geyser in Iceland © Ken Cheung (via pexels)

Auf den Spuren der Eigentümlichkeit

Neben dem Tun dieser Beiden, vor allem im reproduzierenden Bereich, waren die schöpferischen Kräfte Islands bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts fast allesamt noch in europäischen Musikhochburgen ausgebildet worden, ehe sie – meist als Flucht vor den kriegerischen Handlungen auf dem Kontinent – nach Island zurückkehrten und begannen, in der Heimat ihr Œuvre aufzubauen. Als mit Abstand interessanteste Persönlichkeit ist Jón Leifs (1899–1968) zu nennen, der als ein einziger isländischer Komponist früh internationale Geltung erlangte. Dies wohl nicht zuletzt, weil er es in einer originären Weise verstand, die Fontänen der Geysire und Eruptionen der Vulkane musikalisch einzufangen. Was ihm dabei besondere Aufmerksamkeit einbrachte, war, dass er dazu u. a. Steine, Ambosse, Eisenketten, Holzhämmer und Kanonen einsetzte, die damals nun nicht einmal in der allgemeingültigen «modernen» Musik üblich waren. 

In der Folge entstand aus dem Ineinandergreifen der Arbeit der Österreicher:innen, singulärer Persönlichkeiten wie Jón Leifs und der Kreativität weiterer Isländer:innen eine Synthese, die sich seit mehreren Jahrzehnten äußerst fruchtbar und qualitativ erstklassig auswirkt: Bestens geschulte Klangschöpfer:innen sowie Tonsetzer:innen aus Island sind längst selbstverständlich überall dort präsent, wo zeitgenössische oder «Neue» Musik (die mit dem großen «N») zu hören ist. Sie treten selbstbewusst an, wenn es um die wenigen Spitzenplätze geht, die zu vergeben sind, um von einem Festival zum anderen weitergereicht zu werden und dementsprechend zu so relevanten Aufführungszahlen zu kommen, dass sie von ihrem Schaffen leben können.

Anna Thorvaldsdóttir
Anna Thorvaldsdóttir © Anna Maggý

Zu jenen, die mittlerweile an dieser Spitze zu finden sind, zählt die 1977 geborene Anna Sigríður Þorvaldsdóttir, die sich alternativ Anna Thorvaldsdóttir schreibt, was sowohl als Entgegenkommen für ihr internationales Publikum als auch als zwangsläufige Kapitulation vor den Gebräuchlichkeiten der englischsprachigen Computerwelt zu sehen ist. Freilich kommt das so auch hierzulande einer einigermaßen korrekten Aussprache ihres Namens entgegen. Im Konzert am 29. Jänner 2022 im Auditorium in Grafenegg wird die Komponistin mit ihrem knapp viertelstündigen Orchesterwerk «Metacosmos» präsent sein, das sie 2017 im Auftrag der New Yorker Philharmoniker schrieb.

Thorvalds Tochter lässt aufhorchen

Dass es nicht nur die Erkenntnisse aus den Errungenschaften der Aufbaujahre der vereinten isländisch-österreichischen Kräfte sind, welche die Musik von Anna Thorvaldsdóttir prägen, ist das eine. Und dass sie zudem ihre Ausbildung im amerikanischen San Diego vervollkommnete, ist auf derselben Waagschale zu verbuchen. Auf der anderen Seite steht jedoch das «Isländische» an sich. Wer jemals in Island war oder sich via Film oder Fotos Eindrücke davon verschaffte, wird sehr rasch auf den Gedanken kommen, dass sich dies bei kreativen Menschen, die (wieder) dort leben, vermutlich in annähernd so starker Weise in ihrem Schaffen niederschlägt, wie die gediegene akademische Ausbildung. 

Wenn ein Werk dann zudem – und es sei aus ihrem Schaffen nur das aktuell dargebotene stellvertretend herausgegriffen – «Metacosmos» heißt, dann wird sich der Verdacht erhärten, dass eine unmittelbare Beziehung zwischen dem schöpferischen Produkt und dem Land, seinen Eigenheiten, dem Offenkundigen wie dem mehr oder minder Geheimen, dem Natürlichen wie dem Mystischen besteht. Und wenn man sich einmal auf dieser unweigerlichen Spur befindet, dann kommt man einer Annäherung an Anna (der an zweiter Stelle stehende Name, bei uns der Familienname, ist im Isländischen der Name des Vaters mit der Ergänzung, ob es sich um dessen Sohn, also einen -son, oder Tochter, entsprechend eine -dóttir handelt; Änderungen dieses uralten schönen Brauchs sind aktuell im Gange) schon sehr nahe. 

Ganz in diese Richtung geht etwa ein Zitat aus einer Kritik anlässlich einer der zahlreichen seit der Uraufführung vor kaum vier Jahren erfolgten «Metacosmos»-Aufführungen:

«Es gibt heutzutage wahrscheinlich keine andere Komponist:innen, die so geschickt darin sind, die gewaltigen Naturgewalten zu kanalisieren und mit einer vollen Orchester-Klangpalette zu spielen […].»
Zoë Madonna, Boston Globe, März 2020

Kenner:innen der Musik von Jón (Leifs) mögen da aufhorchen – und werden in der Musik durchaus Bezüge zum großen Vorgänger der Anna (Thorvaldsdóttir) feststellen; freilich nicht plakativ, vielleicht nicht einmal bewusst, aber doch in kleinen Details, intuitiv und in einer latent vorhandenen Grundstimmung.

Anna Thorvaldsdóttir
Anna Thorvaldsdóttir © Kristinn Ingvarsson

Intellekt und Gefühl im Paarlauf

Es wird den Hörer:innen von «Metacosmos» durchaus freigestellt, wieweit sie sich der Musik über ein dezidiert «isländisches» Element, über die zwischen Philosophie und Naturwissenschaft changierenden, im Programmheft wiedergegebenen Gedanken der Komponistin oder schlicht und absolut zulässig über die ganz eigene Empfindung nähern, nicht zuletzt entsprechend der Stimmung während der Aufführung: Auf jeden Fall lädt Anna Thorvaldsdóttir zu dieser Annäherung ein. Und selbst wer sich dem Konzertereignis zunächst über die wahrlich nicht gerade mittelmäßige «Konkurrenz» durch die Werke von Tschaikowski und Sibelius nähert, wird von dem bislang noch Unbekannten aus dem Land der Elfen und Naturgewalten vielleicht mehr im Innersten angetan sein, als man es zuvor erahnt hätte.