Ennio Morricone und John Williams
Zwei Legenden in fünf KapitelnVeröffentlicht: 23/06/2025
Die jüngere Geschichte der Filmmusik ruht auf den Schultern zweier Legenden, die diese Kunst auf beiden Seiten des Atlantiks geprägt und beeinflusst haben – von den Hügeln Hollywoods bis zu den sieben Hügeln Roms. Beide sind ein fester Bestandteil unserer kollektiven Vorstellungskraft, der lebendige Soundtrack mehrerer Generationen – von jenen, die mit dem gegenkulturellen Kino der 1960er-Jahre aufgewachsen sind, bis hin zu der Generation, die von einer weit, weit entfernten Galaxie träumte. Diese Legenden sind niemand anderes als John Williams (New York, 1932) und Ennio Morricone (Rom, 1928 – 2020).
Persönlichkeiten wie Williams und Morricone verdienen mehr als nur eine Auswahl von Highlights – sie laden zu einer Entdeckungsreise ein, die auch über das Offensichtliche hinausgeht. So führt uns dieser Abend neben den Klassikern auch in unerwartetes Terrain: Williams bei Morricone zu Hause in der Weite des Westens, Morricone an den Grenzen futuristischer Dystopien – und beide zeigen sich von Seiten fernab der Leinwand. Begleitet werden wir dabei von zwei außergewöhnlichen Solisten – Stathis Karapanos und Luigi Piovano – sowie von Frank Strobel und dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, die neue Blickwinkel auf zwei unerschöpflich eindrucksvolle Stimmen eröffnen.
Reisen
Die musikalische Reise beginnt in einer Landschaft weiter Horizonte und verblassender Mythen. Ein früher Western von Williams – «The Cowboys» (1972), unter der Regie von Mark Rydell und mit John Wayne in der Hauptrolle – erinnert an die klassischen Ideale des Genres, doch mit einem Hauch von Dämmerung. Anstatt Morricones Ironie oder Schroffheit zu übernehmen, greift Williams auf die offenherzigen Idiome von Copland und Bernstein zurück und formt deren Sprache mit seiner unverkennbaren Klarheit und Energie neu. Aus dieser amerikanischen Weite gleiten wir mit Morricone und dem Flötisten Stathis Karapanos südwärts in die amazonische Stille von «The Mission» und weiter in die toskanischen Felder von «Il prato» – ein pastorales Diptychon, das Morricones lyrischste, beinahe himmlische Stimme offenbart – Musik, die zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen zu schweben scheint.
Partnerschaften
Die künstlerischen Wege von Williams und Morricone sind eng mit zwei weiteren Giganten des Kinos verknüpft: Steven Spielberg und Sergio Leone. Das Kino dieser Regisseure ist ohne die Musik von Williams und Morricone kaum denkbar – prägende Stimmen, die ihre Vision formten, ähnlich wie Nino Rota für Fellini oder Bernard Herrmann für Hitchcock.
Die Zusammenarbeit von Williams und Spielberg umfasst seit 1974 ganze 29 Filme – eine der längsten Partnerschaften der Filmgeschichte. An diesem Abend erklingen drei ikonische Themen: das unheimliche Zwei-Noten-Motiv aus dem bahnbrechenden Blockbuster «Jaws» (Der weiße Hai, 1975), das hinreißende Marion’s Theme aus «Raiders of the Lost Ark» – eine Hommage an das goldene Zeitalter Hollywoods – sowie die majestätischen Themen aus «Jurassic Park» (1993), in denen Williams’ unverkennbarer Klang eine Ehrfurcht weckt, die jede visuelle Wirkung übertrifft.
Im Gegensatz dazu revolutionierten Morricone und Leone – einst Schulfreunde – mit nur fünf Filmen den Western. Der Cellist Luigi Piovano spielt heute Abend eine Suite, die Morricone für Yo-Yo Ma komponierte, darunter introspektive Stücke aus «Once Upon a Time in America». Der Flötist Stathis Karapanos begleitet ihn dabei bei Cockeye’s Song, einem tragischen Stück. Ebenfalls Teil des Programms ist Jill’s Theme aus «Once Upon a Time in the West», in dem Morricone die testosterongeprägten Konventionen des Genres mit einer Melodie unterläuft, um die ihn selbst Puccini beneidet hätte – sowie der mitreißende, opernhafte Höhepunkt «The Ecstasy of Gold» – ein zeitloses Symbol ihrer wegweisenden Zusammenarbeit.
Aus einer anderen Welt
Science-Fiction ist seit Langem eine Quelle der Fantasie und Inspiration für Filmkomponisten – und keiner hat sie unvergesslicher gestaltet als John Williams. Weniger bekannt, aber nicht minder originell ist Ennio Morricones Beitrag zu diesem Genre. Die zweite Hälfte des heutigen Konzerts beginnt mit ausgedehnten Auszügen aus Williams’ Filmmusik zu «Close Encounters of the Third Kind» (Unheimliche Begegnung der dritten Art) – ein wahres Tongedicht, das eine Reise von Angst zu Staunen nachzeichnet. Es gilt als vielleicht ambitionierteste Zusammenarbeit zwischen Williams und Spielberg.
Während «Jaws» auf nur zwei ikonischen Tönen basiert, wird «Close Encounters» von einem fünftönigen Motiv geprägt, das als Gruß der Außerirdischen dient – eine Sequenz, die Williams erst nach über 300.000 Kombinationen auswählte. Über dieses unvergessliche Motiv hinaus durchquert die Musik eine Galaxie von Stilen: von pendereckiartiger Klangspannung über impressionistische Passagen à la Skrjabin bis hin zu einem kurzen Zitat von Pinocchios «When You Wish Upon a Star». Es ist ein schillerndes stilistisches Prisma, meisterhaft beherrscht von Williams, das uns in eine andere Dimension trägt.
Morricones eindringlichster Beitrag zur Science-Fiction ist vielleicht «The Thing» (1982), inszeniert vom Horror-Meister John Carpenter. Das Remake eines Films aus den 1950ern erzählt von einem tödlichen, gestaltwandelnden Organismus, der eine Forschungsstation in der Antarktis bedroht. «The Thing» war Carpenters erstes großes Studio-Projekt – und eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er mit einem etablierten Komponisten zusammenarbeitete.
Morricone lieferte eine packende und oft zurückhaltende Partitur, von der jedoch vieles im finalen Schnitt nicht verwendet wurde. Sein Fokus lag nicht auf der Action selbst, sondern auf dem psychologischen Raum davor und danach. Ein ungenutztes Stück, «Bestiality», ist eine unheilvolle, fast mathematische Fuge. Sie beginnt in den Celli, befällt das Klavier und breitet sich im Orchester aus – ganz wie ein Virus. Obwohl es im Film nie zu hören war, weckte dieses gespenstisch-geniale Stück später das Interesse von Quentin Tarantino, der es in «The Hateful Eight» wiederverwendete – in einer Szene, in der ein vergiftetes Getränk Kurt Russell das Leben kostet, nicht zufällig ebenfalls der Hauptdarsteller in «The Thing».
Jenseits der Leinwand
Auch wenn John Williams und Ennio Morricone vor allem für ihre ikonischen Filmmusiken bekannt sind, haben beide zugleich eine reiche parallele Karriere im Konzertsaal aufgebaut – frei von den Zwängen des Kinos.
Morricone, ausgebildet bei Goffredo Petrassi und zentrales Mitglied der avantgardistischen «Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza», komponierte über hundert Werke absoluter Musik – darunter Konzerte, Kammermusik und sakrale Kompositionen. Williams hingegen hat eine besondere Affinität zur Konzertform entwickelt und bislang 14 Solokonzerte geschrieben, in denen er Klangfarbe und Dramaturgie auf einfallsreiche Weise erforscht.
Im heutigen Programm hören wir Williams’ erstes Konzert überhaupt: das Concerto for Flute, Percussion and Strings (1969). Das Werk offenbart seine Faszination für Klangfarben und Texturen – mitunter erinnert es an die hauchige Ausdruckskraft der japanischen Shakuhachi-Flöte – und zeigt eine introvertierte, experimentelle Seite seines Schaffens.
Dem gegenüber steht Morricones spätes Werk «Arcate di Archi» aus dem Jahr 2016, das sich als stille Meditation entfaltet, verankert in einem monolithischen D-Dur. Eine nachdenkliche Cellolinie scheint dabei die Zeit anzuhalten. Entstanden in Zusammenarbeit mit dem heutigen Solisten Luigi Piovano, lädt dieses Werk mit seiner einzigartigen Verbindung aus grafischer Notation und freier Improvisation zur Reflexion ein.
Die Zukunft
Ennio Morricone und John Williams bleiben auch jenseits ihres Alters prägende Kräfte, die die Zukunft der Musik mitgestalten. Den letzten Teil dieses Abends eröffnet ein verborgenes Juwel von Morricone: die Filmmusik zu «H2S» (1969), einer düsteren dystopischen Satire unter der Regie von Roberto Faenza. Der Film, der auf huxleyschen Ideen einer «schönen neuen Welt» basiert, findet sein perfektes musikalisches Gegenstück in Morricones neobarocker Fantasie für Klavier und Orchester. Die Musik verströmt eine beinahe mechanische Fröhlichkeit, streng kontrolliert und präzise – ein faszinierender Kontrast zu den naiven Themen des Films. Dieses exquisite Stück offenbart eine Seite Morricones, die Freude an Komplexität und Ironie hat – ein verspieltes, zugleich sorgfältiges Klangexperiment über gesellschaftliche Kontrolle.
Den Abschluss des Abends bildet eine Reise in eine weit, weit entfernte Galaxis – geführt von Meister Yoda, Luke Skywalker, Prinzessin Leia, dem Imperium und den Rebellen – der wohl ikonischsten Weltraumsaga der Filmgeschichte. Williams’ Musik zu «Star Wars» ließ den symphonischen Klang des Goldenen Hollywood-Zeitalters wiederauferstehen und prägte die Filmmusik einer neuen Ära. Trotz gegenseitiger Hochachtung gestand Morricone einst, er hätte «Star Wars» ganz anders vertont – ein verführerischer Gedanke, der zeigt, wie reich und verschieden die kreativen Welten dieser beiden Legenden tatsächlich sind.
Fernando Carmena
Künstlerischer Leiter – Europäische FilmPhilharmonie
Musik im Film & Filmmusik
Ganz grosses Kino
Tonkünstler-Orchester Niederösterreich · Stathis Karapanos · Frank Strobel
MORRICONE / WILLIAMS