Inspirationsquelle für Kreativität im Herzen Mitteleuropas
Die European Chamber Music Academy in GrafeneggVeröffentlicht: 28/04/2025
«In unserem Vaterlande steht ein Schloß, wie man in manchen Gegenden sehr viele findet, das mit einem breiten Wassergraben umgeben ist, so zwar, daß es eigentlich aussieht, als stünde es auf der Insel eines Teiches. […] Sein Turm hat wahrscheinlich, weil das Schloß in der Ebene liegt, als Warte, als Lug ins Land und bei Belagerungen als Verteidigungsmittel gedient. Die Höhe des Turmes dient jetzt bloß mehr zur Aussicht, welche aber […] in eine große fruchtbare Ebene geht.»
Ohne dessen Namen explizit zu nennen, beginnt Adalbert Stifter seine Erzählung «Bergmilch» aus dem 1853 erschienenen Zyklus «Bunte Steine» mit einer Beschreibung des Schlosses Grafenegg in der Epoche der napoleonischen Kriege. Durch seine historistische Neugestaltung in den Jahren von 1840 bis 1888 wurde der von Stifter beschriebene Bau freilich grundlegend verändert, und erst recht die gleichzeitig erfolgte Umwandlung des streng klassizistischen französischen Parks in einen englischen Garten mit einer Ausdehnung von nicht weniger als 32 Hektar machten die ganze Schlossanlage erst zu dem, was sie heute darstellt – eine einmalige Symbiose von Natur, Garten, Park, Kultur, Geschichte und Tradition als Inspirationsquelle für künstlerische Kreativität, gelegen am weinbergumgrenzten nördlichen Saum der fernglänzend blauen Donau im Herzen Mitteleuropas.
Betrachtet man es aus dem gesicherten Abstand von zehn Jahren, so mag es beinahe scheinen, als wäre es der ECMA, der European Chamber Music Academy, gleichsam vorherbestimmt gewesen, eines Tages eines ihrer wichtigsten Zelte in Grafenegg aufzuschlagen. Betraut mit dem Eröffnungsvortrag bei der offiziellen Gründungsveranstaltung der ECMA am 23. Oktober 2004 an der Musikhochschule Hannover (es ging dabei um die Bedeutung österreichischer Folklore in der Kammermusik der Wiener Klassik, speziell bei Joseph Haydn), sei es an dieser Stelle gestattet, zur Untermauerung dieser kühn anmutenden Behauptung die Perspektive der Betrachtung nur für einen kurzen Moment von einer allgemeinen in eine persönliche zu modulieren.
Die Anfänge
Für die erste Septemberwoche 2002 hatte ich eine Einladung bekommen, als den instrumentalen Unterricht begleitender Kulturhistoriker (drei Jahre zuvor war mein Buch über Joseph Haydn erschienen) eine Woche mit Kammermusikensembles im mir vollkommen unbekannten oberösterreichischen Großraming zu arbeiten und dort auch einige Konzerte zu moderieren, dies alles im Rahmen eines «K&K-Kalkalpenfestivals». Bereits an ersten Abend traf ich auf Hatto Beyerle, woraus sich eine jahrzehntelange Freundschaft und künstlerische Zusammenarbeit ergeben sollte. Im Lauf dieser Woche erzählte mir Hatto Beyerle, natürlich an den langen und unvergesslichen Abenden im Kirchenwirt Ahrer – von uns beiden schnell zum «Musenhof» nobilitiert –, dass er seine langjährigen einschlägigen Kontakte nun zu bündeln gedenke, und in einer Art europaweiten Akademie für Kammermusik institutionalisieren wolle. So wurden mir von erster Stunde an, blitzartig-intuitiv, drei leitende Parameter der damals eben erst geplanten ECMA klar: zunächst die gelebte Intra-Disziplinarität zwischen dem Nachdenken über musikalische Phänomene und dem sinnlich wahrnehmbaren Ereignis «Musik», weiters die Betonung auf die Kammermusik der Wiener Klassik, selbstverständlich unter dem Einschluss Franz Schuberts, als inneres Zentrum der entstehenden Akademie und schließlich der Respekt vor den spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Studier- und Aufführungsorte. «Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen.» – Das Diktum aus seinem «West-östlichen Divan», für das Goethe mit seinem Werk und auch seinem Leben einstand, also erstmals auf Musik appliziert, so etwas hatte ich noch nie erlebt: landschaftlich genuine Idiomatik und historische Schwebstoffe auch lokaler (oft auch volks-)musikalischer Traditionen als integrale Bestandteile der Arbeit an Kammermusik, ich war vollkommen baff!
Nun, wir wissen es, die besagte ECMA wurde zwei Jahre später tatsächlich gegründet, und die nunmehr sich herausgebildet habenden Schau- oder besser vielleicht sogar Hör-Plätze ihrer sogenannten «Sessions» bleiben dieser Idee treu (Goethe hätte natürlich gegen dieses Wort heftig polemisiert und es durch «Erfahrung» ersetzt, aber egal): So stehen besonders Paris, München, Oslo, Vilnius, Zürich und mittlerweile gar Shanghai für die Aura und den Sog urbaner musikalischer Zentren, während etwa Prades, Fiesole oder Großraming gleichsam die F-Dur-Pastoralidyllen repräsentieren.
Vor genau zehn Jahren ist die ECMA von der Musikwelthauptstadt Wien ins nahegelegene Grafenegg übersiedelt, eine irgendwie exemplarische «translatio imperii» der besonderen Art, mittlerweile übergegangen in eine verlässliche «stabilitas loci», im Kalender gelegen immer um den Zeitpunkt Ende Mai/Anfang Juni. Wir konnten von Joseph Haydn lernen, dass die zwölf abendländischen Tonarten, locker assoziierend, den zwölf Bildern im Sternenkreis zwanglos zuzuordnen sind: Man beachte in diesem Zusammenhang das glockenreine C-Dur an der Stelle «Im Widder stehet jetzt die Sonne» aus dem weltlichen Oratorium «Die Jahreszeiten». Und so lässt sich augenzwinkernd andeuten, dass die leitende ECMA-Grafenegg-Tonart an der Wende von Mai zum Juni ausgerechnet D-Dur ist – die heldenhafte Tonart des Gottes- und Herrscherlobs im Schatten des ehemals so wehrhaften Wasserschlosses also … was will man mehr?
ECMA / Schloss Grafenegg
In medias res
Die ECMA bei der ArbeitWie stellt man sich nun den Ablauf einer ECMA-Session in Grafenegg vor, zumindest der Perspektive, wie sie sich in den letzten zehn Jahren herauskristallisiert hat? Nun, nach dem Eintreffen der angemeldeten Ensembles und der vorgesehenen Lehrenden meist schon am Wochenende beginnt am Montag der Unterricht. Seit geraumer Zeit haben die Studierenden auch die Gelegenheit, in den neuen, im Osten der Parkanlage gelegenen Cottages ihr Quartier für die kommenden Tage zu beziehen. Was die Zusammensetzung der Ensembles betrifft, dominieren naturgemäß die Formationen Streichquartett und Klaviertrio, aber auch andere Besetzungen sind hochwillkommen, wie etwa ein Saxophonquartett. Der Lunch wird normalerweise gemeinsam im Schlossrestaurant Mörwald eingenommen, meistens gibt es im Lauf der Woche auch einen gemeinsamen abendlichen Heurigenbesuch in der weinrebenschweren Umgebung des Schlosses, oftmals sogar mit spektakulärer Fernsicht auf das majestätisch über der Wachau thronende Benediktinerstift Göttweig.
Obwohl nicht direkt sichtbar, ist doch die Nähe der Donau stets spürbar, da braucht man gar kein geomantischer Spinner sein, um diese fluiden Schwebstoffe vom Fluss her auf Schritt und Tritt zu bemerken. Am Donnerstag hat sich dann meist das Programm für das Konzert am Samstagabend herauskristallisiert. Es werden keine ganzen Werke ausgeführt, sondern die Ensembles haben die Gelegenheit, Ausschnitte aus jenen Stücken zu präsentieren, an denen sie in den letzten drei Tagen am intensivsten und fruchtbringendsten gearbeitet haben. Meist am Freitag gibt es am späten Nachmittag nach dem Ende der Kurse einen Vortrag für das Plenum, in der Regel zum leitenden «Motto» der Session. Nicht nur in traditionellen Sinn musikwissenschaftliche Themen werden hier behandelt, sondern auch ästhetische, musiksoziologische, interdisziplinäre und auch aktuell ökonomische Bereiche werden abgehandelt, selbstverständlich in den verschiedensten Formaten vom verlässlich-bewährten altmodischen Frontalvortrag bis hin zu ganz offenen Präsentationsformen. Wie schon die samstäglichen «Best of»-Konzerte fanden auch die sonntäglichen Matineen in der Reitschule statt, nach dem Umbau ab 2026 dann im Rudolf Buchbinder Saal.
Die Matinee, ein Kammerkonzert im klassischen Sinn, dessen Programm schon Monate vorher feststeht und im Grafenegg-Jahresprogramm detailliert publiziert ist, wird stets von einem einzigen Ensemble bestritten, das die ECMA bereits absolviert und auf den internationalen Podien reüssiert hat, sie werden ECMA-Alumni genannt. Genau so wie das Konzert am Samstag ist auch die sonntägliche Veranstaltung für des Publikum öffentlich zugänglich und wird ebenso begleitet und moderiert. In den letzten Jahren wurde den Ensembles auch die Gelegenheit geboten, selbst durch die Programmfolge zu führen – man wird ruhigen Gewissens prognostizieren dürfen, dass sich beide Formen der Präsentation im Konzertalltag werden behaupten können. Ein nunmehr endgültig entspanntes gemeinsames Mittagessen der noch verbliebenen Ensembles, Dozenten und Moderatoren beendet traditionell die gemeinsame Woche in Grafenegg, dann zerstreut sich die «Gesellschaft in Caecilia» in alle Windrichtungen. Doch: Nach einer Session ist vor einer Session – und bereits in wenigen Wochen gibt es gewiss ein Wiedersehen in Sachen kundiger, stetiger und geduldiger Arbeit an musikalischer Schönheit und Wahrhaftigkeit.
Haydn erarbeiten mit dem Zauber der Gartenarchitektur
Kehren wir aber vor diesem allgemeinen Aufbruch abschließend noch für einen Augenblick in den nach Frühling duftenden Englischen Garten der Schlossanlage zurück. Er wurde ja in der Mitte des 19. Jahrhunderts als bewusstes romantisches Statement gegenüber jener ursprünglich vorhandenen streng geometrisch-absolutistisch französischen Anlage realisiert, die ihm deshalb ja endgültig weichen musste. Immanuel Kant behandelt in seiner «Kritik der Urteilskraft» den französischen Garten unter der Rubrik «Kunstschönes», den englischen hingegen unter «Naturschönes»!
Im Zuge eines Spazierganges kommt man auf verschlungenen Wegen an prachtvollen Bäumen aus aller Welt, an Seen und Teichen, an alten Landwirtschaftsgebäuden und schönbrunngelb getünchten Rokoko-Pavillons vorbei, doch im Nu, und nur an einer einzigen Stelle, die man freilich kennen muss, ist schlagartig alles anders: Steht man nämlich am (beinah) nordwestlichsten Punkt des Parks, öffnet sich vollkommen unerwartet ein spektakulärer Blick in eine mehrere hundert Meter lange, vollkommen gerade Achse durch eine 300 Jahre alte Lindenallee – man meint sich auf geheimnisvolle Weise und auf der Stelle in eine andere Wahrnehmungssphäre gezoomt! Die weisen Gartenplaner des 19. Jahrhunderts kalkulierten also diesen verblüffenden Blickwechsel in ihr leitendes Gesamtkonzept der Anlage ein, indem sie diesen typischen «Rest» des alten französischen Gartens bewahrten – zwei divergierende Welten und gänzlich konträre Anschauungen im Wortsinn begegnen einander an diesem magischen Punkt in raffiniertem «ésprit du dixhuitième» und gleichzeitig perfekter Schönheit! Jedes Mal, wenn sich mir die Gelegenheit bietet, mit einem Ensemble das «Capriccio» aus Haydns C-Dur-Streichquartett op. 20/2 mit zu erarbeiten, führe ich alle Beteiligten an diesen Punkt – und gleich klingt’s im Proberaum dann anders, denn die musikalischen Überraschungen, die Haydn hier auftischt, finden ihre so anschauliche wie exakte Entsprechung in der historisch zeitgleich angelegten Gartenarchitektur!
Zu dieser Synchronizität der Gestaltung von musikalischen und natürlichen Formen passend bleibt abschließend noch auf jene nunmehrige Tradition hinzuweisen, der zufolge alljährlich der nach Grafenegg eingeladene Composer in Residence im Park einen neuen Baum pflanzt, damit die Anlage à la longue nicht zu einem steril-aseptischen, historistischen Flora- und Fauna- Museum wird. Und genau diese Bemühungen um eine stets aktuelle Verlebendigung von historisch bereits Gewachsenem können auch als das wichtigste Ziel der ECMA gelten. Johannes Meissl, Gründungsmitglied der ersten Stunde und künstlerisch wie ästhetisch Maßstab setzender stetiger Dozent, fasste in seinem Vorwort zum Programmheft der ersten ECMA-Session 2015 in Grafenegg dieses zentrale Anliegen bündig zusammen:
«Wenn nun zum ersten Mal die ECMA-Session am neuen Austragungsort Grafenegg stattfindet, setzen wir auch thematisch ein deutliches Zeichen: Alles Nachdenken über Musik, das Erfassen aller relevanten Informationen, die Beschäftigung mit historischen Quellen, die kritische Auseinandersetzung mit ästhetischen und philosophischen Kontexten dienen für uns als Bühnenmenschen letztlich nur einem Ziel – einer überzeugenden und mitreißenden Performance, die unsere Botschaft und die Inhalte der aufgeführten Werke kommunizieren kann!»
Harald Haslmayr
Erlebnis Kammermusik
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