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Interview mit Philippe Manoury

Composer in Residence 2023

Veröffentlicht: 06/08/2023

Das Werk «Anticipations» wurde im Dezember 2022 zum ersten Mal in Porto aufgeführt. Wegen der Pandemie und in diesem Jahr auch wegen der Generalstreiks in Paris wurden Konzerte verschoben oder fanden gar nicht statt.

Sie haben sich entschlossen, eine neuere Version zu schreiben – was haben Sie geändert?

Ich habe «Anticipations» nicht neuverfasst. Die Fassung, die in Grafenegg aufgeführt wird, ist theoretisch identisch mit der Aufführung, die ich in Porto gehalten haben. Die Betonung liegt auf «theoretisch», weil die Elemente dieses Werks, bei denen sich die Musiker:innen um das Publikum herumbewegen, an die Gegebenheiten des Ortes Grafenegg anpasst werden müssen. 

Die Architektur dieses Ortes unterscheidet sich stark von der eines klassischen Konzertsaals. Daher müssen die Platzierung und der Bewegungsfluss jener mobilen Einheiten neu überdacht werden. 

Die Partitur wird jedoch die gleiche sein wie in Porto. Ich werde sicherlich die Dynamik und einige Tempi entsprechend dieser Konzertstätte neu ausrichten müssen. Aber das sind nun mal die notwendigen Anforderungen für ein solches Werk. Es muss an verschiedene Orte angepasst werden.

Philippe Manoury über «Anticipations»

© Grafenegg

Welche Herausforderungen birgt die Situation «im Freien»? Gibt es Konsequenzen für die Bildung und Konzentration von Ensembles?

Diese Frage kann ich erst beantworten, wenn ich mir angehört habe, wie die Musik klingen wird. Die Frage, betreffend der Abstände zwischen den einzelnen Gruppen, ist sehr wichtig. In derartigen Situationen muss man einen offenen Geist bewahren und darf nicht zögern, bestimmte Details in der Partitur zu ändern. 

Dynamik und Tempi sind Kategorien, die höchst relativ zu den akustischen Bedingungen sind. Ich habe keinen Zweifel daran, dass ich einige Elemente, die in der Partitur stehen, ändern muss. Beispielsweise könnte eine Gruppe, die mezzo forte spielt, vielleicht fortissimo spielen müssen, da sie viel weiter außerhalb platziert sein wird. Ich erwarte viel von diesen Proben, die es mir ermöglichen werden, die Musik so anzupassen, dass sie an diesem Ort so klingt, wie ich es mir wünsche.

Die Idee des «orchestre spatialisé» entstand aus der Beobachtung sozialer Phänomene. Welche Entwicklungen beschäftigen Sie derzeit besonders?

Ich beschäftige mich seit mehreren Jahren mit der Frage nach einer Erneuerung des Symphonieorchesters. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass sich das Orchester im Laufe der Geschichte kaum verändert hat. 

Mahlers Orchester ist zwar viel größer als das von Haydn, aber die Struktur, der Aufbau und die Gruppierung der Musikerinnen und Musiker sind dieselben. Dieses Orchester entspricht einer Vision, die im 18. Jahrhundert entstanden ist und sich im 19. entwickelt hat. Es ist wie ein Spiegelbild der damaligen Gesellschaft. Man findet dort homogene Familien, von denen einige wichtiger sind als andere. 

In der gesamten klassischen und romantischen Musik haben die Streicher zum Beispiel eine zentrale und dominante Rolle, während die Blechbläser (vom Schlagzeug ganz zu schweigen) nicht gleichwertig behandelt werden. Es gibt eine immense Literatur, die zu diesem Thema Meisterwerke hervorgebracht hat. Aber das ist kein Grund, das Orchester weiterhin immer auf die gleiche Art und Weise einzusetzen.

An welchem Punkt findet diese Idee und die Beobachtung von sozialen Phänomenen ihren Weg in die Musik?

Heutzutage gibt es eine Denkrichtung, die gerne eine gesellschaftliche Organisation gründen würde, in der die Verantwortung stärker geteilt wird, als sie es gegenwärtig ist. Man träumt von einer Gesellschaft, in der weder Ausgrenzung noch die Dominanz einer Gruppe über die andere praktiziert wird. Das mag utopisch sein, aber ohne Utopie kommt man nicht sehr weit. 

Auf ähnliche Weise würde ich mir für das Orchester des 21. Jahrhunderts eine Vision wünschen, in der die Instrumentengruppen eine gewisse musikalische Verantwortung gleichmäßig teilen. Damit ist nicht gemeint, dass alle die ganze Zeit über gleichberechtigt sind, sondern dass Instrumentalgruppen zu unterschiedlichen Zeiten eine Art «Führung» übernehmen, die dann auf andere Gruppen übertragen wird. 

Ebenso halte ich die Hierarchie zwischen ersten und zweiten Geigen nicht mehr sinnvoll. Natürlich gibt es auch unter den Musiker:innen Ebenen und Unterschiede, einige haben mehr Erfahrung als andere. All das kann sehr wohl in diesem Orchester, das ich mir vorstelle, neu durchdacht werden. Während ich einen hierarchischen Unterschied innerhalb einer Gruppe sehr gut akzeptieren kann (wie in der Gesellschaft einige Akteure erfahrener sind als andere), würde ich gerne die Hierarchien zwischen den Gruppen abschaffen.

Inwiefern dient die Musik als Spiegel für gesellschaftliche Phänomene?

Da kommt wieder die Verbindung mit meiner «Utopie» zu tragen! Die Kunst muss der Gesellschaft «voraus» sein (um nicht den etwas überstrapazierten Begriff «Avantgarde» zu verwenden) und neue Weltanschauungen vorschlagen. Wozu sollten wir Künstlerinnen und Künstler sonst gut sein? 

Wir sollten nicht einfach ein Spiegel des Bestehenden sein, sondern vielmehr eine Perspektive dessen entwerfen, was wir gerne kommen sehen würden. Die Kunstmusik (klassische oder moderne) leidet derzeit unter einem gravierenden Mangel an Wertschätzung. Ihr wurde von der Popmusik «die Show gestohlen», die überall in unseren sozialen Räumen (Radio, Fernsehen, Medien, Geschäfte, Flughäfen, Bahnhöfe usw.) zu hören ist. 

Ich betrachte alle sogenannten «klassischen» Komponist:innen als große Experimentator:innen, die etwas komponiert haben, was es vor ihnen nicht gab. Ich fühle mich aus dieser Tradition heraus geboren und möchte nicht von dieser Regel abweichen. Ein Teil der zeitgenössischen Kunst flüchtet weiterhin in einen Elfenbeinturm und ruft im Gegenzug bei einigen Künstler:innen eine Nostalgie hervor, die ich für lebensbedrohlich halte. 

«Wenn die Musik also ein größeres Phänomen vorwegnehmen kann, wie es die Gesellschaft mit ihren vielen Verzweigungen ist, würde sie ihre ursprüngliche Rolle erfüllen: eine Stimme zu sein, die etwas ausspricht, das bisher noch nicht gesagt wurde.»

Inwiefern werden in «Anticipations» gesellschaftliche Phänomene reflektiert?

Von diesem Standpunkt aus habe ich mich in «Anticipations» auf die Figur des «Whistleblowers» berufen. Eine Gruppe spielt außerhalb des Saals eine andere Musik als jene, die auf der Bühne gespielt wird. Sie drückt eine andere Stimme aus. Diese Gruppe wird sich dann nähern und weiter um das Publikum herumspielen. Ab diesem Zeitpunkt beeinflusst sie das auf der Bühne verbliebene Ensemble ein wenig mehr. Schließlich wird sie sich dem Orchester anschließen und es in ein Finale führen, das den Höhepunkt ihres Einflusses darstellt. 

Die Metapher besteht darin, dass eine mobile Gruppe einer festen Gruppe gegenübersteht. Die Mobilität wird als Bedrohung einer festen Ordnung gesehen, doch nach und nach gewinnt sie an Boden und überzeugt schließlich die andere Gruppe davon, diesem zunächst doch fremden Weg zu folgen. Es ist ein bisschen so, wie wenn einige Personen die gesamte Gesellschaft vor einer kommenden Gefahr warnen, die niemand zu sehen scheint. In meinem Beispiel führt dieser Schritt zu einem positiven Ende, was in der Gesellschaft leider nicht oft der Fall ist. 

Das ist auch die Bedeutung des Titels «Anticipations». Es ist das erste Stück eines Zyklus, bei dessen letztem Teil ich gerade mit der Komposition beginne. Er wird «Präsenz» heißen und im August 2024 in Tokio uraufgeführt werden.

Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Mentor und was möchten Sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmer:innen des Composer-Conductor-Workshops Ink Still Wet vermitteln?

Das Wichtigste ist, ihnen bei der Verwirklichung ihrer Vorhaben zu helfen. Es geht nicht darum, sie in meiner eigenen Ästhetik zu beeinflussen. Das würde zu nichts führen. Zunächst ist es erforderlich, genau zu verstehen, was die Komponist:innen ausdrücken möchten – auch wenn ich ihre Auffassung manchmal nicht teile – und alles daranzusetzen, dass sie dieses Ziel erreichen. Unabhängig von rein technischen Fragen kann ich sie auf Probleme hinweisen, die sie manchmal unbewusst anstoßen, und ihnen zeigen, dass sie daraus andere Konsequenzen ziehen sollten. 

© Sonja Stangl

Ich denke, das ist die einzige intelligente Art, Komposition zu unterrichten. Das sind alles Musiker:innen, die ihre eigenen Erfahrungen machen, die ihre eigenen Ideen haben, und ich bin nur dazu da, ihnen dabei zu helfen, sie zum Blühen zu bringen und zu verwirklichen. Ich weiß sehr gut, dass eine musikalische Idee aus sehr persönlichen Dingen entstehen kann und dass jede Komponistin und jeder Komponist einzigartig ist. 

Ich denke, ich werde Ihnen bei den Proben weiterhin Änderungen vorschlagen, so wie ich es auch selbst bei meiner eigenen Musik tun werde. Danach steht es ihnen frei, diese anzunehmen oder abzulehnen. Ich hoffe, dass ich ihnen nützlich sein kann und sie dazu bringe, ihr Bestes zu geben.

Wie wirken sich Ihre eigene Ausbildung und Erfahrung auf Ihre heutige Beziehung zu angehenden Komponist:innen aus?

Auch ich war einmal ein junger Komponist und erinnere mich noch gut daran, wie ich mich von älteren Komponisten inspirieren lassen konnte, aber auch daran, wie sehr ich darauf bedacht war, unabhängig zu bleiben, manchmal fast undurchlässig für die verschiedenen Stile, die mir zur Verfügung standen. Im Frankreich der 1970er Jahre gab es auf der einen Seite die Musique concrète, die aus der Klasse von Pierre Schaeffer hervorging, und auf der anderen Seite die Anfänge der Musique spectrale mit Gérard Grisey und Tristan Murail, deren Lehrer Olivier Messiaen war, seinerzeit ein Meister von großem Einfluss. Obwohl ich all diese Persönlichkeiten in unterschiedlichem Maße bewundere, habe ich mich dennoch von jeder Einzelnen distanziert. 

Daher verstehe ich sehr gut, dass junge Komponist:innen heute auf Distanz gehen und nicht denselben Weg wie ich einschlagen wollen. Unabhängigkeit ist in den Anfängen eines Komponist:innenlebens von entscheidender Bedeutung. Dennoch werde ich ihnen verschiedene Aspekte meiner Arbeit zeigen, in der Hoffnung, dass sie dadurch zum Nachdenken angeregt werden. Natürlich nicht, um mich zu imitieren, sondern damit sie über Fragen nachdenken, die sie sich vorher vielleicht nicht gestellt haben.

Kurzportrait Philippe Manoury

© Grafenegg

Was ist Ihr Ansatz während dieser vier Wochen?

Diese Komponist:innen werden ihre Stücke selbst dirigieren. Das ist eine ziemliche Herausforderung, aber es wird sehr interessant sein zu sehen, wie sie ihre Musik an die Musiker:innen des Orchesters weitergeben. Das hat nichts mit dem eigentlichen kompositorischen Talent zu tun. Ich kenne viele berühmte Komponist:innen, von denen ich mir vorstellen kann, dass sie sich in dieser Position nicht sehr wohl gefühlt hätten, wie Debussy, Ravel, Berg, Messiaen, Dutilleux, Xenakis, Nono oder Lachenmann. 

Zum Glück ist Brad Lubman da, um sie dabei anzuleiten. Was mich betrifft, werde ich mich bemühen, pragmatisch zu sein. Es bleibt nicht viel Zeit für Proben und was sie schreiben, muss umgesetzt werden. Es kann also sein, dass ich ihnen Modifikationen vorschlagen muss, vor allem in Bezug auf die Klangbalance, was immer die große Frage ist, wenn man anfängt, für Orchester zu komponieren.

Brad Lubman
Brad Lubman © Stephanie Berger

Was waren die entscheidenden Ereignisse, die Ihre Entwicklung als Komponist beeinflusst haben?

Ich denke, eine der prägendsten Begegnungen war die mit Karlheinz Stockhausen in den 1970er Jahren. Ich habe nie mit ihm gearbeitet oder einen einzigen Kurs bei ihm belegt, aber sein Beispiel war stark genug, um mich von der Korrektheit der Richtung zu überzeugen, die ich einschlagen wollte. Er zeigte mir zum Beispiel, dass ein und dieselbe Person für Orchester und Elektronik komponieren konnte, während in Frankreich die Dinge völlig getrennt waren. Er hat der elektronischen Musik gewissermaßen ihren Adelsbrief verliehen und ich habe seine Arbeit fortgesetzt, indem ich sie auf die Informatik und die Echtzeit* ausgeweitet habe. 

Ich hatte auch das Glück, Zeitgenosse der Entstehung des Ircam (Anm. d. Red.: Institut de recherche et coordination acoustique/musique) in Paris zu sein und mitzuerleben, wie die Computermusik vor meinen Augen aufgebaut wurde. Ich habe selbst sehr viel dazu beigetragen. Ich lernte den Mathematiker Miller Puckette kennen, mit dem wir sozusagen den Grundstein für die Welt der Echtzeit legten. Wir mussten alles erfinden, weil es damals fast nichts gab. Bei dieser Arbeit wurden wir sehr von Pierre Boulez unterstützt, der das alles mit großem Interesse betrachtete. So waren nach Stockhausen am Ende meiner Jugendzeit das Ircam von Pierre Boulez und die technischen Erfindungen von Miller Puckette sehr prägend für meinen Werdegang. 

* Die Echtzeit beschreibt in der elektronischen Musik die Kapazität, Musik direkt herzustellen, ohne vorherige Aufzeichnung. Die Musik, die man hört, wird «in dem Moment, in dem man sie hört» berechnet. Dadurch kann sie interaktiv und von Instrumentalspieler:innen veränderbar sein und ist nicht mehr starr wie die ältere Musik auf Magnetband.

Wo finden Sie Ihre Inspiration und wie sieht Ihr Kompositionsprozess aus?

Die Inspiration ist ein unergründliches Gebiet. Sie kann aus einer Improvisation am Klavier kommen, aus dem Hören anderer Musik oder sogar aus einem Gedanken, der auftaucht, ohne dass ich weiß, warum. Es kann auch aus einer Unzufriedenheit heraus entstehen, weil ich eine Idee in einem früheren Werk nicht weit genug getrieben habe. Ich verbringe jeden Tag fünf bis sechs Stunden mit dem Komponieren. Es ist manchmal wie beim Sport. Man muss sich aufwärmen und dann kommt man voran, weil der Kopf voller Musik ist. Aus einer Idee entsteht eine andere und so weiter. Das Schwierigste für mich ist nicht, Ideen zu haben, sondern sie gut auszudrücken. 
 

«Ich höre «innerlich» die Musik, die ich auf Papier notiere, und das ist es, was meine Vorstellungskraft besonders nährt.»
Philippe Manoury

Ich arbeite mit zwei verschiedenen, sich aber ergänzenden Werkzeugen: Das eine ist das Orchester, das andere die Echtzeitelektronik. Seit über dreißig Jahren versuche ich, diese beiden Instrumente in einem Kompositionsprozess zu vereinen. Wenn ich für das Orchester komponiere, ist meine Vorstellungskraft vollständig von Jahrhunderten der Musik bewohnt, einem Repertoire, das von der Alten Musik bis in die Gegenwart reicht. Ich höre «innerlich» die Musik, die ich auf Papier notiere, und das ist es, was meine Vorstellungskraft besonders nährt. 

Wenn ich synthetische Musik komponiere, ist das ganz anders: Ich habe keine große Geschichte hinter mir (außer einer sehr aktuellen) und muss viel experimentieren, direkt mit einem Computer. Es handelt sich um ein Rohmaterial, das ich formen muss, ähnlich wie ein Bildhauer in früheren Zeiten einen Marmorblock nahm und daraus eine Form entstehen ließ. Nur dass ich diese Klangform nicht a priori kenne. Sie wird sich im Laufe der Arbeit offenbaren. 

Es ist mir nicht möglich, diese Musik «mental» zu hören, bevor ich sie komponiere. Aber wenn diese beiden Ansätze in einem Werk zusammenkommen (z. B. in einer Komposition für Orchester und Elektronik), müssen sie auf eine kohärente Weise sprechen. Das Publikum weiß nicht, wie das Ganze komponiert ist, und das ist auch nicht wichtig. Was es braucht, ist, dass es hört, dass Orchester und Elektronik mit einer Stimme sprechen können. Das ist für meinen Kompositionsprozess von grundlegender Bedeutung.

Welche Idee verbirgt sich hinter «Fanfare»?

Ich habe das Werk «Ouverture pour un festival» nach Auftrag entwickelt. Man hört eine Soloposaune, dann ein Horn, dann eine Trompete, als wären es Einladungen, an einem beginnenden Festival teilzunehmen. 

Das Publikum wird feststellen, dass die Klänge von allen Seiten kommen und wird allmählich in sie eintauchen. Nach einem Wettstreit zwischen Musiker:innen, die auf der Bühne stehen, und anderen, die um das Publikum herum verteilt sind, werden sich alle auf der Bühne zu einem Finale versammeln, das ich mir «festlich» wünsche. Ich hoffe, dass das Publikum dadurch in eine gute Stimmung für das Festival versetzt wird.

Gibt es eine Verbindung zu einer traditionellen Fanfare?

In gewisser Weise ja. Eine Fanfare ist ein Stück, in dem Blechbläser und Schlagzeug eine dominante Rolle einnehmen. Ich wollte diese von Freude und Aufregung erfüllte Stimmung, die man in traditionellen Fanfaren findet, beibehalten, aber die Form und die Anordnung der Musikerinnen und Musiker ändern. 

Diese Idee der räumlichen Zersplitterung ist für mich auch eine Möglichkeit, das Publikum auf «Anticipations» vorzubereiten, ein Werk, in dem die Musiker:innen nicht in einer konventionellen Anordnung sind und der Raum eine entscheidende Rolle spielt.

Welche Verbindung besteht zu Grafenegg, und gab es Anregungen, die von diesem Ort ausgingen, an dem sich Zeitgenössisches und Traditionelles vermischen?

Daran habe ich nicht gedacht, als ich diese Fanfare komponiert habe, aber ich denke aus einem anderen Blickwinkel sehr viel darüber nach. Zeitgenössisches und Traditionelles zu vermischen ist das Beste, was es gibt. Allzu oft spezialisieren sich Festivals und führen dazu, dass die Leute nicht kommen, um Neues zu entdecken, sondern um Dinge zu genießen, die sie bereits kennen. 

«Zeitgenössisches und Traditionelles zu vermischen ist das Beste, was es gibt.»
Philippe Manoury

Ich denke dabei nicht nur an das traditionelle Publikum klassischer oder barocker Konzerte, welches die Musik seiner Zeit nicht kennt, sondern auch an das Publikum zeitgenössischer oder aktueller Musik, das jegliche Verbindung zur Kultur der Vergangenheit verloren hat. 

Wie Faulkner schrieb: «The past is never dead. It’s not even past». Man sollte die Musik der Vergangenheit hören, als wäre sie eine zeitgenössische Schöpfung (was sie zu ihrer Zeit war), die ihre ganze Frische wiedergibt, und die Musik der Gegenwart als eine Verlängerung dieser seit Jahrhunderten so reichen Musikkultur. Sie trennen zu wollen, bedeutet, sie zu begraben. Die Vergangenheit spricht in der Gegenwart und umgekehrt.

Wie haben Sie Grafenegg bei Ihrem ersten Besuch wahrgenommen?

Ich muss die hervorragende Vorbereitung auf diese Arbeit unterstreichen. Wir haben drei Tage im Vorfeld mit den jungen Komponist:innen verbracht, um sie bei der Fertigstellung ihrer Kompositionen in die bestmöglichen Bahnen zu lenken. 

Es gab auch sehr fruchtbare Treffen zwischen diesen Komponist:innen und Vertreter:innen jeder Orchesterfamilie. Ich habe diese Musiker:innen als äußerst hilfsbereit und voller Enthusiasmus erlebt, was eine hervorragende Ausgangsposition ist. 

Ich denke, dass die in Grafenegg praktizierte Herangehensweise eine der besten ist, die es gibt. Man nimmt sich die nötige Zeit, um diese jungen Komponist:innen ihre Ideen entwickeln zu lassen, und nach und nach werden die Dinge erblühen. Man muss sagen, dass dieser Ort bezaubernd ist. Die Natur ist präsent, es gibt Tiere in der Nähe, der Raum ist einladend. 

Ich habe an mehreren Kompositionsakademien gearbeitet und manchmal fühlt es sich wie Fließbandarbeit an. Zu viele Komponist:innen, zu wenig Zeit, zu wenig Proben… In Grafenegg lässt man die Zeit zugunsten der Kreation spielen. Das gefällt mir sehr.