Klappernde Knochen
und tanzende ToteVeröffentlicht: 28/10/2025
Liebe und Tod: Was mehr braucht der Mensch für ein kulturell ausgeglichenes Leben? Doch lassen wir die Liebe für diesmal beiseite. Am Tag vor Allerheiligen und Allerseelen blickte man hierzulande noch vor wenigen Jahrzehnten mitleidig auf «Halloween» herab, diesen zutiefst amerikanischen Brauch, den einst irische Einwanderer über den großen Teich mitbrachten und der sich zu einer bunt-schillernden, kitschig-witzigen Tradition ausweitete. Doch wie das schon so ist in einer vernetzten Welt: 2025 werden auch im Alpenland längst Kürbisse geschnitzt, Totenschädel und künstliche Spinnweben zieren Häuser und Gärten, Kinder ziehen umher, um sich dem Nervenkitzel auszusetzen, erschreckt zu werden und Süßigkeiten einzusammeln. Aber auch so manch berühmtes Werk der Musikgeschichte kann es aufnehmen mit den Halloween-Späßen, ganz ohne Verkleidungen und Inszenierungen, allein mit Tönen.
Der personifizierte Tod, der Sensenmann, ein Gerippe mit löchrigem Umhang und der obligaten Sichel: eine Figur, die seit Jahrhunderten die abergläubige Menge ängstigt und zahllose Künstler:innen inspirierte, sich mit dem Jenseitigen zu befassen. Doch nicht erst das Zeitalter der Romantik beflügelte kreative Geister, sich mit dem Ende des Lebens und dem möglichen Danach auseinanderzusetzen, schon älteste Völker hingen unterschiedlichsten Gedanken über das Schicksal der Verstorbenen nach. In Europa trugen nicht zuletzt die großen Seuchen (vor allem der «schwarze Tod», die Pest) dazu bei, dem Sterben ein Gesicht und spezielle Verhaltensweisen zuzuschreiben: der böse grinsende Knochenmann, der irgendwann einen jeden holt – ob arm oder reich, ob heilig oder sündig. Die christliche Überlieferung erwartet zudem das Jüngste Gericht mit seinem abschließenden göttlichen Urteil über alle Menschen – weshalb dem gregorianischen Hymnus «Dies Irae» («Tag des Zornes») beim Konzil von Trient (1545 –1563) ein fester Platz in der Requiem-Liturgie eingeräumt wurde. Als schauriges Zitat durchgeistert dieser Choral die ganze Musikgeschichte und hat sogar in Hollywood-Fantasyfilme Eingang gefunden.
Gregorianischer Choral
Mönche von Notre DameDer Totentanz als mitternächtliche Party Verstorbener, die sich für eine Stunde aus ihren Gräbern erheben und wilde Tänze aufführen, zierte etwa ab dem im 15. Jahrhundert Altäre in Kirchen und Kapellen, Friedhofsmauern, Gemälde und Bücher. Der Tod ist meist als Gerippe dargestellt, als beinahe ganz entmenschlichtes Knochengerüst, das einer wirren Logik folgt und ohne Gelenkschmiere knochenklappernd und hölzern dahintorkelt. Es existieren unzählige Lieder, Orchesterwerke, Konzertstücke und Bühnenwerke, die den personifizierten Tod zum Inhalt haben oder wo er im engeren Sinn eine Rolle spielt. Die hier vorgestellte kleine Auswahl – ein Lied, ein Satz aus einer Symphonie und ein Konzertstück für Klavier und Orchester – soll nicht mehr sein, als eine Erinnerung, was alles in der Musik steckt. Und ist vielleicht der Soundtrack für eine halbe Gruselstunde.
«Und unten zerschellt das Gerippe …»:
Carl Loewes «Totentanz» nach GoetheEines der berühmtesten Gedichte über eine solche Begebenheit schuf Johann Wolfgang von Goethe 1813. Goethe floh damals gerade von Weimar nach Teplitz, um sich im Zuge der napoleonischen Befreiungskämpfe in Sicherheit zu bringen. Im Oktober 1813 schließlich stieß der lebenslang von ihm verehrte Napoleon Bonaparte auf ausreichend Opposition, die in der Völkerschlacht bei Leipzig mündete. Damals standen nicht weniger als etwa 600.000 Soldaten im Feld, mehr als 90.000 von ihnen starben oder wurden schwer verwundet. Napoleon verlor die Schlacht, an die heute in Leipzig ein Denkmal erinnert. Kein Wunder also, dass so viel Tod auch in der Kunst auf verschiedenste Weise Ausdruck findet.
Goethes Gedicht erzählt die Geschichte eines Türmers, der ab Mitternacht einen Totentanz beobachtet. Er erlaubt sich einen Scherz und beraubt eines der Gerippe seines Lakens und wird dann in Angst und Schrecken versetzt, weil das Gespenst ohne sein Laken nicht in sein Grab zurück kann und auf den Kirchturm hinaufklettert. Doch so ganz ohne Muskulatur kann sich das Gerippe nur langsam hochrappeln: Mit der Kirchturmuhr, die 1 Uhr schlägt, fällt es krachend zu Boden und zerbricht in seine Einzelteile.
Der deutsche Komponist Carl Loewe, der Goethe zeitlebens verehrte, schuf eine kongeniale Vertonung. Durch sein untrügliches Gefühl für Versmaß und farbige Ausgestaltung des Textes fand Loewe einen Tonfall, der das Unheimliche, die Absurdität des mit der dritten Strophe anhebenden Tanzes, den Schabernack und die zuletzt panische Angst des Türmers samt Erlösung durch die Turmuhr plastisch einfängt. Für lautmalerische Effekte stand Loewe dabei einzig das Klavier zur Verfügung. Aber hören Sie selbst in einer Einspielung mit Dietrich Fischer-Dieskau, des vielleicht größten, sicher aber fleißigsten Liedsängers des 20. Jahrhunderts, und Jörg Demus am Klavier. Zum Mitlesen finden Sie hier auch gleich den Goethe-Text.
«Der Totentanz»
Dietrich Fischer-Dieskau · Bariton / Jörg Demus · KlavierDer Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage;
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht,
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann
In weißen und schleppenden Hemden.
Das reckt nun, es will sich ergötzen sogleich,
Die Knöchel zur Runde, zum Kranze,
So arm und so jung und so alt und so reich;
Doch hindern die Schleppen am Tanze:
Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut,
Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreut
Die Hemdelein über den Hügeln.
Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein,
Gebärden da gibt es vertrackte;
Dann klippert’s und klappert’s mitunter hinein,
Als schlüg’ man die Hölzlein zum Takte.
Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor;
Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr:
Geh! hole dir einen der Laken!
Getan, wie gedacht! und er flüchtet sich schnell
Nun hinter geheiligte Türen.
Der Mond und noch immer er scheinet so hell
Zum Tanz, den sie schauderlich führen.
Doch endlich verlieret sich dieser und der,
Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher,
Und husch! ist es unter dem Rasen.
Nur Einer, der trippelt und stolpert zuletzt
Und tappet und grapst nach den Grüften;
Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt;
Er wittert das Tuch in den Lüften.
Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück,
Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück,
Sie blinkt von metallenen Kreuzen.
Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht,
Da gilt auch kein langes Besinnen,
Den gotischen Zierrat ergreift nun der Wicht
Und klettert von Zinne zu Zinnen.
Nun ist’s um den Armen, den Türmer, getan,
Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan,
Langbeinigen Spinnen vergleichbar.
Der Türmer erbleicht, der Türmer erbebt,
Gern gäb’ er ihn wieder, den Laken.
Da häckelt – jetzt hat er am längsten gelebt –
Den Zipfel ein eiserner Zacken.
Schon trübet der Mond sich, verschwindenden Scheins,
Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
Und unten zerschellt das Gerippe.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Geister, Hexen und Ungeheuer:
Hector Berlioz im DrogenrauschGanz ohne die menschliche Stimme kam Hector Berlioz bei seiner Darstellung eines Hexensabbats aus, der das Finale der 1830 komponierten «Symphonie fantastique» bildet. Der vollständige Werktitel enthält noch einen Zusatz, der für das Verständnis unerlässlich ist: «Episode aus dem Leben eines Künstlers» («Épisode de la Vie d’un Artiste»). Der zur Zeit der Entstehung 27-jährige französische Komponist wollte mit seiner Symphonie die Frau seiner Träume beeindrucken: Berlioz war der damals berühmten britischen Schauspielerin Harriet Smithson verfallen, die als Ophelia im «Hamlet» und Julia in «Romeo and Juliet» bei ihm ebenso gewaltigen Eindruck hinterlassen hatte wie William Shakespeares Dramen, die in dieser Zeit Künstler wie Publikum auf dem Kontinent eroberten.
Berlioz steigerte sich in eine regelrechte «Passion infernale» hinein, eine diabolische Leidenschaft. Aber: Tatsächlich geschah irgendwann das schier Unglaubliche: Er lernte Harriet Smithson in Paris tatsächlich kennen! Doch damit nicht genug: 1833, also drei Jahre nach der «Symphonie fantastique», schlossen die beiden den Bund fürs Leben, wobei beider Leben deutlich länger dauerte, als der Bund, der nach elf Jahren Ehe ein verfrühtes Ende fand.
Und die «Symphonie fantastique»? Sie zählt bis heute zu den beliebtesten Orchesterwerken des 19. Jahrhunderts. Das damalige Publikum lauschte dieser Musik gebannt und schockiert: Darin fanden sich innovative Effekte wie das col-legno-Spiel der Streicher (bei dem der Holz des Bogens über die Saiten streicht), oder sonst nur im Opernorchester beheimatete Instrumente wie exponierte Harfen, Englischhorn und Glocken, ein ganzes Arsenal an höchst differenziert eingesetztem Schlagzeug, Paukenstimmen, die sich zu rhythmisch belebten Clustern verdichten, gespenstisch heulende Glissandi und grell kreischende Einsätze der Bläser … ideale Zutaten für die Darstellung unheimlicher Vorgänge also.
Dieser experimentelle Zugang zur Instrumentalmusik war für die Menschen ebenso verstörend, wie das beigegebene, in verschiedenen Fassungen überlieferte «Programm», also die inhaltliche Erklärung der Symphonie in schriftlicher Form. Solche eine Erklärung zur Musik galt als ungehörig zu der Zeit. Noch dazu verriet Berlioz, dass er zum «Hexensabbat» im Finale durch den Konsum von Opium inspiriert wurde. Die Halluzinationen des in alkoholischer Lösung euphemistisch «Laudanum» (lat. «laudare», dt. «loben») genannten Rauschgifts beschrieb Thomas de Quincey in seinen «Confessions of an English Opium-Eater» (1822) wohl nicht von ungefähr mit dem Hinweis auf künstlerische Zusammenhänge:
«Hinter meiner Stirn schien plötzlich ein Theater erstanden und beleuchtet, in dem nächtliche Schauspiele von überirdischem Glanze stattfanden [...]. Diese und alle anderen Veränderungen meiner Träume waren von abgründiger Angst und düsterer Schwermut begleitet, die sich mit Worten nicht schildern lassen. Nacht für Nacht schien ich – nicht metaphorisch, sondern buchstäblich – in Schlünde und sonnenlose Abgründe zu versinken, in Tiefen unter Tiefen, aus denen emporzusteigen es keine Hoffnung gab.»
Das von Berlioz selbst verfasste Programm zur «Symphonie fantastique», also eine Art Inhaltsangabe der Vorgänge in der Symphonie, erachtete er bei Aufführungen als unerlässliche Beigabe zum Verständnis. Die Vorgänge im letzten Satz lauten so:
«Songe d’une nuit de Sabbat»
Traum einer Sabbatnacht«Der mit Opium vergiftete Held sieht sich beim geträumten Hexensabbat inmitten einer abscheulichen Schar von Geistern, Hexen und Ungeheuern aller Art, die sich zu seiner Totenfeier versammelt haben. Seltsame Geräusche, Stöhnen, schallendes Gelächter, ferne Schreie, auf die andere Schreie zu antworten scheinen. Das Motiv seiner Liebe erscheint noch einmal, doch es hat seinen noblen und schüchternen Charakter verloren; es ist nichts mehr als ein gemeines Tanzlied, trivial und grotesk; sie ist es, die zum Sabbat gekommen ist … Freudengebrüll begrüßt ihre Ankunft … Sie mischt sich unter das teuflische Treiben … Totenglocken, burleske Parodie des ‹Dies irae› (Hymne, die bei den Trauerzeremonien der katholischen Kirche gesungen wird), Sabbat-Tanz. Der Sabbat-Tanz und das ‹Dies irae› erklingen zusammen.»
All das verarbeitete Berlioz in der Musik, die bis zum heutigen Tag nichts von ihrer Kraft eingebüßt hat. Die Musik sollte man idealerweise nüchtern genießen, um sie in ihrer ganzen Vielfalt wahrnehmen zu können.
5. Satz: «Songe d’un nuit de Sabbat»
Mahler Chamber Orchestra, Les Musiciens du Louvre / Marc Minkowski · DirigentDer «Totentanz» als Klavierkonzert:
Franz Liszt und das «Dies irae»Franz Liszt erhielt die erste Inspiration zur eigenen Beschäftigung mit dem «Dies irae» durch Hector Berlioz’ «Hexensabbat« aus der «Symphonie fantastique». Dort verarbeitete Berlioz das «Dies irae» äußerst effektvoll in oben beschriebener, höchst weltlicher Manier. Neun Jahre später trat Liszt auf den Plan, seine eigene Version des berühmten Chorals in die Tat umzusetzen. Zu der Zeit befand er sich am Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn, eroberte mit seiner «pianistischen Hexenkunst» ganz Europa, bevor er sich im Februar 1848 in Weimar niederließ. Neben dem Dirigieren befasste er sich dort intensiv mit der Um- und Ausarbeitung eigener Kompositionen – auch der 1838 konzipierte «Totentanz» erhielt 1849 seine erste fertige Gestalt. Abgesehen vom Berlioz’schen «Hexensabbat» inspirierte Liszt das Fresko «Trinfo della morte» von Buonamico Buffalmacco aus dem 14. Jahrhundert, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. 1853 und 1859 überarbeitete Liszt seinen «Totentanz», und erst im Jahr 1865 erklang die pianistisch enorm anspruchsvolle Version des «Dies Irae» in Form eines Variationenzyklus für Klavier und Orchester erstmals. Der Widmungsträger Hans von Bülow, enger Freund und selbst fantastischer Pianist, spielte am 15. April 1865 die Uraufführung des «Totentanzes» in Den Haag. Liszt hatte zu der Zeit Weimar längst verlassen, um in Rom ansässig zu werden und dort 1865 die niederen katholischen Weihen empfangen:
«Mein Hang zum Katholizismus rührt von meiner Kindheit her und ist ein bleibendes und mich beherrschendes Gefühl geworden»,
Liszts «Totentanz» zählt zu den effektvollsten, schwierigsten Klavier-Orchesterwerken der Romantik. Liszt war, wie so oft, auch hier seiner Zeit voraus; er setzte nicht zuletzt den Orchesterapparat dem Thema gemäß höchst unkonventionell und in grellen Farben ein. Das Thema mit sechs Variationen lässt sich strukturell auch als viersätziges symphonisches Gebilde verstehen, wobei die lyrische vierte Variation den langsamen Satz vertritt. Rund um diese Variation herrscht ein rauer Umgangston: Schroffe, strenge Harmonik in Verbindung mit aggressiven Rhythmen bestimmen schon den Beginn der Komposition.
Das Thema wird zunächst vom tiefen Blech über heftig stampfenden Akkorden im Klavier kurz vorgestellt, dann führen auftrumpfende Klavierkadenzen und eine Überleitung mit nochmaliger Bestätigung des Themas im Klavier zur ersten Variation, intoniert von den Fagotten und tiefen Streichern. Die zweite Variation schließt unmerklich daran an, wobei hier das Klavier recht rasch in heftige Glissandi ausbricht, während der Bass das Thema herausmeißelt. Die dritte Variation schließlich eröffnet das Klavier mit leeren Staccato-Akkorden, während Liszt in der schon erwähnten vierten Variation das Thema deutlich beruhigt etwas weiter aussingen lässt. Die fünfte Variation, ein Fugato, mündet schließlich nach ausführlicher Kadenz in die sechste und damit letzte Variation, die in sich nochmals als mehrteilige Variation in Form einer großangelegten Stretta gelesen werden kann. Eine Reminiszenz an die Glissandi der zweiten Variation schließlich setzt dem jenseitigen Spuk ein irdisches Ende: Unter Beteiligung des vollen Orchesters inklusive Pauke und Tam-Tam «zerschellt das Gerippe».