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Natürlich Tenor?

Instrument des Jahres 2025

Veröffentlicht: 02/06/2025

Drei Spitzentenöre im Doppelsinne sind Juan Diego Flórez, Michael Spyres und Klaus Florian Vogt. Als Stars, aber auch als Künstler, die in Tonregionen vorstoßen, wo die Luft dünn wird. Dabei lassen sie sich keiner der üblichen Fachschubladen zuordnen. Was zeigt, wie komplex eine Diskussion um die Stimme, Instrument des Jahres 2025, manchmal sein kann.

Die Natur hat diese Männer nicht vorgesehen. Eine emotionale Äußerung abseits und weit oberhalb des Sprechens, erreichbar nur mit hartem Training, gelegentlich (mit viel Glück) auch mit bloßer Naturstimme. Ein Grenzgang, knifflig, absturzgefährdet – und gerade deshalb umso spektakulärer und begehrenswerter für alle, die ihn verfolgen. Baritone und Bässe führen im Vergleich zum Rummel um die Tenöre fast eine Schattenexistenz. Die Stimme, das Instrument des Jahres 2025 und ältestes überhaupt, erfährt beim Tenor ihre extreme Ausprägung.

Unnatürlich also? Das zweigestrichene, «hohe» C, ultimatives Ton-Erotikon, hat eine Frequenz von etwa 520 Hertz. Beim Sprechen bewegen sich Männer aber zwischen 100 und 150 Hertz. Und damit nicht genug: Bis in die 1830er-Jahre wurde das C mit starker Kopfstimmenresonanz angesteuert, «Falsettieren» umschreibt dies nur ungenügend. Doch 1837 riskierte Gilbert-Louis Duprez die Revolution. Als Arnold Melcthal in der Oper «Guillaume Tell» trieb er seine Bruststimme bis in diese Stratosphäre. Das erste hohe C in tenoraler Vollschwingung, Komponist Gioachino Rossini selbst fand dies nur mäßig elegant. Der Ton klinge «wie der Schrei eines Kapauns, dem die Kehle durchgeschnitten wird», so wird er zitiert.

Fast zwei Jahrhunderte später bewegen sich Tenöre zwar noch immer in diesem Bereich oberhalb des Notensystems, jedoch stilistisch und technisch abgesicherter. Das hohe C und die Frequenzen darüber hinaus bleiben eine Mischung aus Phänomen und Kuriosum. Tenoraler Alltag ist dieser Bereich für Juan Diego Flórez. 

«Das hohe C ist prickelnd und mitreißend, es erregt»,
Juan Diego Fórez

sagte er einmal der Tageszeitung «Die Welt». Er verstehe die Aufregung darum, ihm selbst gehe es gar nicht anders. «Natürlich nur, wenn ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe. Ich begreife, dass die Leute ausrasten. Wenn man es trifft.»

Juan Diego Flórez

Tenor im neuen Anzug

Am 31. August ist der Peruaner zu Gast in Grafenegg. In seiner Matinee singt er Lieder und Arien unter anderem von Rossini, Donizetti und Verdi. Eine Woche, bevor Kollege Klaus Florian Vogt beim Festival gastiert, ebenfalls mit Liedern, allerdings in einer besonderen Form: Vogt bringt am 7. September Schuberts «Die schöne Müllerin» in einem farbenprächtigen Arrangement für Kammerensemble mit. Und schon zu Beginn der wärmsten Jahreszeit steht ein weiterer Star-Tenor auf der Grafenegger Bühne: Michael Spyres wirkt am 19. und 20. Juni an der Sommernachtsgala mit. Dass er an diesem Abend nicht nur die tenorale Visitenkarte schlechthin, «Nessun dorma» aus Giacomo Puccinis «Turandot» singt, sondern auch Figaros Auftrittsarie aus Rossinis «Barbier von Sevilla», einen Baritonhit also, zeigt: Ganz einfach ist das nicht mit der Klassifizierung als Tenor.

So sehr sich die Repertoirefelder von Flórez, Vogt und Spyres manchmal berühren, so wenig haben diese Künstler miteinander zu tun. Obwohl: Alle drei führen sie auch eine Art Zwischenexistenz. Viel- und Mehrstimmigkeit bündeln sich gewissermaßen in einer Person. Einem eindeutigen Stimmfach zuordnen lassen sie sich nicht. Bei Juan Diego Flórez und Klaus Florian Vogt hat dies, obwohl sie Tenöre sind (siehe oben!), etwas ganz Natürliches: Ihre Stimmen reifen und verändern sich. Wobei sich beides bedingt – der Lebenslauf samt Alterungsprozess einer Stimme und die Eroberung gewichtigerer Partien.         

Juan Diego Flórez
Juan Diego Flórez © Gregor Hohenberg

Juan Diego Flórez, am 13. Januar 1973 in Lima geboren, begann als klassischer Tenore di grazia. Als Sänger also mit einer eher schmalen, schlackenlosen, hellen, biegsamen, extrem fokussierten und koloraturfähigen Stimme. Seine Domäne war und ist Rossini. Eigentlich wollte er Popsänger werden, mit 16 schrieb er eigene Lieder und trug diese in Piano-Bars, im Fernsehen oder bei Festivals vor. Doch dann ging Flórez aufs Konservatorium und startete ein Gesangsstudium. 1996 gab er sein Debüt in Pesaro beim Rossini-Festival in «Matilde di Shabran» – und war fortan aus der Belcanto-Welt nicht mehr wegzudenken. Mit den Jahren näherte er sich den Partien des lyrischen Tenors und damit dem Mozart-Bereich. Mittlerweile gehören Rollen des lyrisch-dramatischen Fachs wie Pollione in Vincenzo Bellinis «Norma», Rodolfo in Giacomo Puccinis «La bohème» oder Hoffmann in Jacques Offenbachs «Les contes d’Hoffmann» zu seinem Repertoire. Wobei noch immer die Sozialisation als Tenore di grazia herauszuhören ist. Der typische «Flórez-Klang» ist also weiterhin präsent.

Das Wandeln durch die Stimmfächer mit zunehmendem Alter: Eine ganz alltägliche Sache ist das. 

«Als ich Ende dreißig war, merkte ich, dass sich in meiner Stimme etwas ändert. Die Muskeln altern, aber all diese Veränderungen können gleichzeitig auch eine Chance auf einen neuen, aufregenden Karriereabschnitt sein.»
Juan Diego Flórez

So beschreibt Flórez diesen Prozess. Mit der Zeit habe sich die Stimme einen anderen im Körper verankerten Sitz gesucht, sie sei dunkler und breiter geworden. 

«Man wird reifer, muss eine neue Mitte finden, die Technik an die Situation der Stimme anpassen.»
Juan Diego Flórez

Wobei diese Veränderung für einen Künstler auch Irritation bedeutet. Flórez geht damit offen um. Er habe sich «befremdet» gefühlt, als sich da eine neue Karrierephase abzeichnete. «Das ist wie ein Anzug, der plötzlich an der einen Stelle schlackert und an der anderen kneift.»

Klaus Florian Vogt

Lizenz zur Lyrik

Sich in einem anderen Rollenumfeld wieder- und zurechtfinden, eine stimmliche Entwicklung zu akzeptieren, sie behutsam voranzutreiben – auch Klaus Florian Vogt hat diese Erfahrung gemacht. Wobei das Singen bei ihm sogar Zweitkarriere bedeutet: Vogt, am 12. April 1970 in Heide im deutschen Bundesland Schleswig-Holstein geboren, fing an als Hornist. Von 1988 bis 1997 spielte er im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Parallel dazu studierte er Gesang. Für sein erstes Engagement als professioneller Sänger in Flensburg ließ sich Vogt von den Hamburgern beurlauben. Im Zweifelsfall hätte er also in den sicheren Erstjob zurückkehren können. Doch Intendanten und Agenten wurden sofort auf ihn aufmerksam. Von 1998 bis 2004 war Vogt an der Dresdner Semperoper engagiert, bevor es in den Karriere-Steilflug ging. 2002 hatte er in Erfurt erstmals jene Partie gesungen, die zu seiner Lebensrolle werden sollte. Eine Rolle, über die sich dieser Tenor sogar definiert: Richard Wagners Lohengrin.

Klaus Florian Vogt
Klaus Florian Vogt © Harald Hoffmann

Klaus Florian Vogt sperrt sich gegen die Einordnung in ein Tenorfach. Vom Repertoire-Bouquet her wäre er ein jugendlicher Heldentenor, der Klang scheint dem jedoch zu widersprechen. Eben jener Klang, der die Opernszene in zwei Lager spaltet. Knabenhaft, diese Beschreibung versteht mancher nicht als Lob. Ebenso nicht eine Titulierung wie «Klang gewordene Unschuld». Tatsache ist: Vogt singt mit einer extremen, sehr eigenen Kopfstimmenresonanz. Dunkle Farben, bronzene Töne, ein breites Timbre, das war ihm zumindest bis vor Kurzem fremd. «Ätherisch» oder «überirdisch» jubeln die einen, gerade wenn sie Vogts Lohengrin genießen, «Gesäusel» lästern andere. Wobei Letztere einem Irrtum aufgesessen sind: Sie verwechseln Stimmfarbe mit Technik.

Gerade durch seine so besondere Registernutzung hat Vogt vielen Kollegen Entscheidendes voraus. Wo sich andere mit Tricks mühen, segelt dieser Sänger über alle Hürden, auch im Lied. Für Vogts Helden gilt in jeder Phrase die Unschuldsvermutung. Dank seiner hohen Dosis Kopfstimmenresonanz verfügt Vogt über eine quasi natürliche Mezzavoce, also über jene laut Übersetzung «halbe Stimme», die eben nicht Falsettieren bedeutet, sondern trotz aller Verhaltenheit den Kontakt zu tieferen Registern behält. Eine entspannte, locker auf dem Atem liegende Tonproduktion, die sich durch ihre hellen Klanganteile ohne Druck Raum verschaffen kann. Exemplarisch zeigt sich das an Vogts Lohengrin: Dieser Gralsritter entstammt wirklich einer anderen Welt. Das Zarte, Empfindsame der Opernhelden ist bei Vogt bestens aufgehoben. Er ist der Wagner-Mann mit der Lizenz zur Lyrik, eine Idealbesetzung auch für den Müllerburschen in Franz Schuberts Liedzyklus «Die schöne Müllerin».

Wie bei jedem Sänger, bei jeder Sängerin hat sich auch Vogts Stimme verändert. Vom Grundklang wird er immer der hell timbrierte Besonderling bleiben. Doch über den Stolzing in Wagners «Meistersingern» hat er sich weitergearbeitet in einen Bereich, den ihm anfangs kaum einer zugetraut hätte, ins schwere Heldenfach. Ein sehr lyrisch grundierter Tenor mit einem Faible für jugendliche Helden nun im Superschwergewicht: Die klassische Facheinteilung, das Schubladendenken wurde von Vogt ganz schön durcheinandergebracht. 2017 debütierte er als Tannhäuser an der Bayerischen Staatsoper, 2023 als Siegfried in Zürich (wo er auch selbst das Horn des Helden blies!), 2024 sang er in Bayreuth Tannhäuser plus die beiden Siegfriede in Wagners gleichnamigem Musikdrama sowie in der «Götterdämmerung», dies während einer einzigen Sommersaison – ein gewaltiges Pensum.

Und das größte Paradox: Auch wenn sich Vogt klanglich seinen juvenil-unschuldigen Charme bewahrt hat, schafft er das neue Fach ohne hörbaren Raubbau. Erstaunlich stabile, breite Klangsäulen kann Vogt mittlerweile in den Raum meißeln und bleibt doch immer dem Ursprungsklang seiner Stimme verpflichtet. Dass er damit manchen irritiert, weiß er. 

«Ich kann ja nur mit meiner Stimme singen», sagte er einmal im persönlichen Gespräch. «Darüber mache ich mir also wenig Gedanken.»
Klaus Florian Vogt

Die Einordnung in ein bestimmtes (Tenor-)Fach kann im Übrigen auch Klischees produzieren, die den Rollencharakter verengen, ihm nicht mehr gänzlich gerecht werden. Bis zum Punkt, an dem Vogts Lebensheld umgekrempelt wurde: Als Katharina Wagner 2025 den «Lohengrin» in Barcelona inszenierte, war da der Gralsgesandte als Mörder und Machtmensch zu erleben. Vogt beglaubigte dies auch stimmlich – und war vielleicht nie so gut, so facettenreich in dieser Partie.

Michael Spyres

Sänger zwischen allen Fächern

Zum Lohengrin hat sich mittlerweile auch Vogts Kollege Michael Spyres vorgetastet. Dies allerdings von beiden Seiten, aus der Stratosphäre und aus dem Kellerregister: Spyres ist Baritenor. Eine Zuschreibung, die kein Dazwischen ist, sondern Bariton und Tenor verbindet. Und die nichts Neues ist. In den bekanntesten Werken des Musiktheaters finden sich immer wieder Partien dieses Zwitterfachs. Die teils extrem hoch gelagerten Bariton-Rollen des frühen Verdi gehören dazu, aber auch der Eisenstein in der «Fledermaus» von Johann Strauss. Operettengänger haben diese Erfahrung schon oft gemacht. Manchmal wird der Eisenstein von einem Tenor, manchmal von einem Bariton gesungen. Spyres kann diese Doppelexistenz eindrücklich vorführen. Ist er als Bariton aktiv, nutzt er eine entsprechende Farbe und sichert seine Stimme in tieferen, dunkleren Regionen ab. Singt er reine Tenor-Rollen, ist eine viel hellere, schlankere, nach oben hin freiere Stimme zu erleben.

Michael Spyres
Michael Spyres © Andie Botrell

Michael Spyres, der 1979 in Mansfield im US-Bundesstaat Missouri geboren wurde, konnte früh auf die Förderung seiner Eltern bauen, beide sind Musikpädagogen. Zunächst studierte er in seiner Heimat, mit 24 Jahren wechselte er nach Wien und sang dort auch nebenbei im Arnold Schoenberg Chor. 2005 hatte er sein Operndebüt in Neapel als Jaquino in Beethovens «Fidelio». Mozarts «Zauberflöten»-Tamino, viel Rossini, aber auch der Alfredo in Verdis «La traviata», das legt eine klassische Tenor-Karriere nahe. Aber dies passierte gerade nicht. Spyres selbst beschreibt seine stimmliche Entwicklung als eine Art Kurve. Von Natur aus habe er eine tiefe Stimme gehabt. Noch heute kündet seine Sprechstimme davon. Zehn Jahre dauerte es, bis er ganz im Tenor-Biotop angekommen war. 

«Die erste Arie, die ich jemals gelernt hatte, war Leporellos ‹Register-Arie› aus ‹Don Giovanni› von Mozart»,
Michael Spyres

berichtet er im persönlichen Gespräch, eine Bassbariton-Partie. Die Lage über dem zweigestrichenen G habe ihn für ihn nicht existiert – und sei nur mit Falsett, also mit reiner Kopfstimme erreichbar gewesen.

Welche Früchte die harte Vokalarbeit trug, zeigte sich bald einem verblüfften Publikum. Spyres bewegte sich so sicher wie kaum ein anderer in Gipfelregionen, schien sogar mit diesen Extremtönen zu spielen. Immer mehr spezialisierte er sich auf den Belcanto und Französisches. Noch heute kann man auf Youtube darüber staunen, wie Spyres mit einer musterhaften Mischung von Kopf- und Brustregister, mit der «Voix mixte», das hohe E oder F singt. Wie sein Kollege Flórez erlebte dieser Ausnahmemann einen Reifungsprozess:

«Ab dem 40. Lebensjahr verändert sich ganz allgemein etwas im Körper, vor allem im Zusammenspiel der Muskeln. Meine Stimme ist dunkler geworden.»
Michael Spyres

Und, dies als Ergänzung, tiefer gelagert, ohne jedoch die Fähigkeit zu Höhenflügen einzubüßen. Spyres wurde bewusst, dass es ein Tenor-Leben diesseits des hohen F gibt und steuerte, mit breiterer Mittellage, das Fach des jugendlichen Heldentenors an. Aktuell singt er Beethovens «Fidelio»-Florestan, Wagners Lohengrin und dessen «Walküren»-Siegmund und in diesem Bayreuther Festspielsommer den Stolzing in den «Meistersingern von Nürnberg». 

Eine erneute Mutation also. Doch die wurde von Spyres nicht forciert, sondern – ganz im Gegenteil – genutzt. Es ist der Musterfall. Das Hören auf die eigene Stimme. Das Nachgeben gegenüber der physischen Entwicklung. Und dies gepaart, verschränkt und durchdrungen von behutsamer Förderung und Forderung durch neue, über das bisherige Repertoirefeld hinausweisende Rollen. Michael Spyres ist das geglückt, Klaus Florian Vogt und Juan Diego Flórez ebenfalls. Vielleicht auch, weil sie das vorgeblich so fest gefügte Fach-System ein Stück weit ignoriert haben. 2025 wurde die Stimme unter anderem zum «Instrument des Jahres» bestimmt, weil sie das komplexeste überhaupt ist: Warum also sollte sie sich in Schubladen sperren lassen?

    Fabien Gabel
    Sommerklänge Jahreszeitenklänge Green Event
    19/06/2025 Do
    20.15 Uhr

    Sommernachtsgala

    Tonkünstler-Orchester Niederösterreich · Siphokazi Molteno · Michael Spyres · Rudolf Buchbinder · Fabien Gabel

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    Fabien Gabel
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