Orchester als Friedensbotschafter
Was sollten wir mit Musik bewirken?Veröffentlicht: 10/08/2023
Musik ist Leidenschaft. Musik ist Handwerk. Musik ist Kultur. Musik ist ein Medium. Es gibt nichts, was sie nicht sein oder tun kann. Warum sollten wir musikalische Darbietungen allein auf den Aspekt der Unterhaltung beschränken? Was ist also Musik und was sollte sie leisten oder besser gesagt: Was sollten wir mit Musik bewirken?
Diese profunden, für einige sogar existenziellen Fragen zu stellen, ist in Krisenzeiten umso dringlicher. In diesem Interview erkunden wir die Mission des European Union Youth Orchestra und seine Rolle als kultureller Botschafter der EU. Zudem freut sich das Grafenegg Festival zum ersten Mal das Kyiv Symphony Orchestra begrüßen zu dürfen. Als persönlich vom Krieg Betroffene haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, die ukrainische Kultur durch ihre Musik zu verbreiten und zu repräsentieren.
Wie verwirklichen zwei Orchester, beide mit einer Vision, ihren Auftrag? Für das Kyiv Symphony Orchestra antwortet der Chefdirigent Luigi Gaggero und das EUYO repräsentiert der künstlerische Leiter Marshall Marcus.
Mit dem Angriff Russlands hat sich Ihr Leben fast über Nacht verändert, und es mussten schwierige Entscheidungen getroffen werden. Das Kyiv Symphony Orchestra beschloss, auf Tournee zu gehen und sich die Verbreitung der ukrainischen Kultur zur Aufgabe zu machen. Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Botschafter der ukrainischen Kultur?
Luigi Gaggero: Ich denke, dass die Kultur in jeder Konfliktsituation eine wesentliche Rolle spielen sollte. Denn es ist die Kultur, die uns alle zu den wesentlichen Fragen bringt: «Wer sind wir?», «Wer wollen wir sein?», «An welche Werte glauben wir?». Ohne sich diesen Fragen zu stellen, ist es unmöglich, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, und zwar auf allen Ebenen der Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Alltag…). Außerdem besteht Europa aus der Verbundenheit und der Vielfalt der nationalen Identitäten; jede nationale Kultur ist sozusagen ein «Ziegelstein», mit dem unser gemeinsames Haus gebaut wird. Die ukrainische Musik ist einer dieser «Ziegelsteine», und deshalb sind wir stolz darauf, sie so viel und so gut verbreiten zu können.
Das EUYO wurde 1976 als Versinnbildlichung des Ideals einer Gemeinschaft gegründet, die zusammenarbeitet und sich für soziale Verständigung und Frieden einsetzt. Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Kulturbotschafter?
Marshall Marcus: Die Funktion als Kulturbotschafter ist eine sehr interessante Rolle. Im Orchester geht es letztlich darum, gemeinsam etwas zu tun. Für uns geht es darum, wie wir als Orchester mit Menschen aus vielen verschiedenen Kulturen, aus vielen verschiedenen Ländern, aus vielen verschiedenen Gegenden zusammenarbeiten und zu zeigen, dass Menschen unterschiedlich sind und trotzdem gut zusammenarbeiten können. Ich persönlich denke, dass es wahrscheinlich das Wichtigste für die heutige Menschheit ist. Wenn man sich in der Welt umschaut, haben wir all diese Herausforderungen. Wir haben Kriege. Wir haben Hungersnöte. Wir haben riesige Probleme mit dem Klima, alle möglichen Herausforderungen in Bezug auf die Nachhaltigkeit. Und jeder kann sagen, dass jeder dieser Punkte der Wichtigste ist. Aber das Wichtigste ist im Grunde, dass wir besser zusammenarbeiten. Dies ist das höhere Ideal der EU. Wenn dieses Orchester auf der Bühne musiziert, sehen Sie, wie 110 bis 120 Leute aus 27 Ländern zusammen ein erstaunliches Niveau an Exzellenz und Zusammenarbeit in perfekter Harmonie, Einheit in der Vielfalt, erreichen. Sie verlieren oder vergessen nicht ihre eigene Identität, aber sie kommen zusammen. Das ist es, wofür wir Botschafter sind.
Kriegszeiten, vor allem in der Nähe der Heimat oder im Heimatland, sind außerordentlich hart. Diese extremen Situationen beeinflussen alles und zwingen einen dazu, anders zu handeln. Eine Folge davon war die Verbannung aus der Ukraine. Im April haben Sie in Warschau Unterschlupf gefunden und von dort aus Ihre Tournee begonnen. Seitdem haben Sie in mehreren europäischen Ländern gespielt und sind nach Gera gezogen. Im Frühjahr übernahmen die Berliner Philharmoniker die Schirmherrschaft für Sie. Wie hat sich diese europäische Unterstützung angefühlt? Welche Folgen hatte sie für Sie und das Orchester?
Luigi Gaggero: Diese internationale Hilfe hat sich entscheidend ausgewirkt: Ohne sie würde es das Orchester nicht mehr geben. Jetzt haben wir in Deutschland eine Wohnung und einen Probenraum, und die Einladungen zu Konzerten halten das Orchester «am Leben» – sowohl als Institution als auch in Bezug auf die Menschen, die es zusammenstellen. Die Situation ist nach wie vor wirtschaftlich äußerst problematisch, und das Leben der Musiker:innen ist alles andere als einfach; wir hoffen, dass immer mehr Menschen und Institutionen für die musikalische Qualität, die wir anbieten, empfänglich sind und uns weiterhin unterstützen.
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2021 ist hier in Europa ein Krieg ausgebrochen.
Wie hat sich der Krieg auf Sie, als Organisation, die auf die Werte der Zusammenarbeit und Einheit ausgerichtet ist, ausgewirkt?
Marshall Marcus: Die erste Sache, die wir tun wollten, war zu sagen, dass wir ein Sprachrohr sein können, um eine wichtige Stimme bei dem, was vor sich geht, zu vertreten. Und so haben wir innerhalb weniger Wochen das Projekt «Frieden in Europa» entwickelt. Der Zweck war es, Konzerte in verschiedenen Ländern zu veranstalten, um die Aufmerksamkeit auf die Situation zu lenken, denn eines der wichtigsten Ziele ist es, das Bewusstsein zu schärfen und Wissen zu verbreiten. Wie sich das auf uns auswirkt, ist eine interessante Frage: Es gibt Leute im Orchester, die aus Polen kommen, aus Orten, die nicht weit von der Ukraine entfernt sind. Es gibt Menschen in Rumänien, die über die Grenze schauen und sich fragen, ob eine Armee kommen wird, um zu versuchen, nebenan in Moldawien Krieg zu führen. Diese Menschen spüren das auf eine sehr persönliche Weise. Und unser Ziel innerhalb unserer Gemeinschaft ist sicherzustellen, dass dies ein relevantes Gesprächsthema ist.
Die «Voices of Ukraine» -Tournee umfasste 9 Stationen und fand trotz oder gerade wegen des Krieges statt.
Wie hat sich der Krieg auf Ihre Organisation und das Orchester ausgewirkt?
Luigi Gaggero: Wir mussten alles sehr schnell umplanen, und ich muss mich wirklich bei den deutschen und polnischen Institutionen bedanken, die es möglich gemacht haben, uns in allerletzter Minute einzuladen. Diese Flexibilität ist heute sehr schwierig, und ich verstehe ihren Wert wirklich. Der größere Unterschied zur «normalen» Organisation besteht darin, dass wir jetzt offensichtlich recht kurzfristig planen (wir müssen Konzerte für die nächsten Monate finden, nicht für 2026!), und das bedeutet eine Menge zusätzlicher Arbeit. Aber im künstlerischen und administrativen Team geben wir alle unser Bestes und arbeiten praktisch 24 Stunden am Tag. Außerdem haben wir trotz der schwierigen Situation eines unserer musikalischen «Markenzeichen» nicht verändert: Unser Orchester probt normalerweise «ad libitum», d.h. viele Tage lang, um einer Interpretation Zeit zum Wachsen zu geben – das ist extrem wichtig in einer Musikwelt, in der Zeit ein Luxus ist, und fast kein Orchester hat normalerweise genug davon.
Ein großer Teil eures Terminkalenders wird durch die zwei Tourneen pro Jahr ausgefüllt.
Wie ist es, mit Musiker:innen so unterschiedlicher Herkunft zu touren, und wie wirkt sich das auf das Orchester als Ganzes, aber auch auf die Organisation aus?
Marshall Marcus: Unser Team muss vielfältig sein, damit es die kulturelle Vielfalt versteht und damit arbeiten kann. Und ich weiß, dass es eine Reihe von Büchern mit dem Titel «Kulturschock» gibt, eines für jedes Land, und man muss das Buch über die Kultur des jeweiligen Landes kennen, um nicht nur in dem Land arbeiten zu können, wenn man auf Tournee ist, sondern auch, um mit den Menschen aus diesem Land zu arbeiten. Das ist natürlich einer der großen Vorzüge dieses Orchesters, dass, wenn man so paneuropäisch arbeitet, alles eine Verhandlung ist, die man als Einzelner mit anderen führen muss, die andere Ansätze haben. Wie können Menschen, die sehr unterschiedlich sind, zusammenarbeiten? Und wenn man das schafft, trägt man dazu bei, die Welt besser zu machen. Bei allem, was wir tun, geht es darum, wie man Raum für das andere schafft. Die Tatsache, dass wir immer mit der Idee von Einheit und Vielfalt zusammenarbeiten, qualifiziert uns für Projekte in weit entfernte Teile der Welt. Ich hoffe, dass ich richtig liege, wenn ich sage, dass das European Union Youth Orchestra ein Expertenteam für kulturelle Vielfalt ist.
Im Jahr 2022 haben Sie und das Orchester den Preis «Musical Contest» der Stiftung Prince Pierre de Monaco gewonnen.
Wie fühlt sich diese Auszeichnung an? Haben Sie das Gefühl, dass sie einen Einfluss auf Sie oder Ihre Arbeit hatte?
Luigi Gaggero: Einen so wichtigen Preis zu gewinnen, ist natürlich eine große Ehre; eine externe, «unabhängige» Würdigung der eigenen Arbeit zu erhalten, kann das Gefühl verstärken, dass man «auf dem richtigen Weg» ist, und das ist ermutigend. Aber ich denke auch, dass wir eine Musikwelt haben, die den Preisen zu viel Bedeutung beimisst. Ich erinnere mich an Marguerite Yourcenar, die sagte, dass nur die Künstler:innen selbst den Unterschied und den Abstand zwischen einer idealen Vision und dem, was sie wirklich geschaffen haben, messen können – sie sehen also, was sie nicht geschafft haben. Selbst die größten Kunstwerke können die Künstler:innen nicht zufriedenstellen, da das Ideal immer größer ist. Unter diesem Aspekt ist also die äußere Bewertung nicht sehr wichtig, denn es ist Ihr eigener, innerer «Ruf der Wahrheit», der Ihnen sagt, was letztendlich in Ordnung war und woran Sie noch arbeiten müssen. Ich interessiere mich also eher für das, was ich bisher nicht geschafft habe, als dass ich mir für die wenigen Ergebnisse, die ich letztendlich erreicht habe, ein «Bravo» ausspreche.
Das EUYO hat schon viele Preise für seine Arbeit erhalten, unter anderem 2020 die Auszeichnung zur «EU-Kulturmarke des Jahres».
Wie fühlt es sich an, geehrt zu werden und welche Auswirkungen ergeben sich nun im Nachhinein?
Marshall Marcus: Die regelmäßige Verleihung von Preisen an das Orchester ist natürlich erfreulich, und diejenigen von uns, die im Team sind, wissen, dass das nichts mit uns zu tun hat. Es läuft schon seit Jahren so, lange bevor einer von uns dazu kam. Die europäische Kulturmarke des Jahres 2020 war eigentlich etwas Ungewöhnliches, denn normalerweise bezieht sich die Auszeichnung auf das Orchester oder etwas in dieser Art. Aber die Auszeichnung zur beste Marke, war sehr erfreulich, vor allem für unser Kommunikationsteam, denn es ist das Team, das an der Marke arbeitet. Ich denke, es ist großartig, wenn man einen Markenpreis erhält, dann bestätigt das nicht nur, dass man glaubt, die richtigen Dinge zu tun, sondern auch, dass man über das, was man tut, auf die richtige Weise spricht. Es ist allgemein sehr interessant welche verschiedenen internationalen Preise wir erhalten, aber im Nachhinein sind diese Auszeichnungen tatsächlich sehr wichtig – nicht, weil wir uns mit diesen Ehrungen gut fühlen, sondern weil sie ein unabhängiges Urteil darüber sind, dass das Orchester in eine Richtung geht, die von der Gesellschaft geschätzt wird. Wie wir wissen, ist ein Kompliment von einer anderen Person oder Institution mehr wert als tausend, die man sich selbst geben könnte.
Was ist die Mission des Orchesters und wie steht das Programm, das Sie in Grafenegg spielen werden, damit in Verbindung?
Luigi Gaggero: Diese tragische Situation bringt uns, denke ich, zurück zur «wahren Mission» eines jeden Musikers und einer jeden Musikerin: Ein Konzert mit großer Musik ist keine Unterhaltung, sondern es ist (sollte) eine «Frage von Leben und Tod» sein, ein gutes Konzert sollte seinem Publikum immer eine wirklich transformative Erfahrung bieten – ohne die ein Konzert im Grunde nutzlos ist. In Grafenegg werden wir mit dem legendären Pianisten Rudolf Buchbinder Beethovens 5. Klavierkonzert und die 2. Symphonie von Revutsky, einem der größten ukrainischen Komponisten, spielen und versuchen – wie wir es in unseren Konzerten meistens tun – eine musikalische Reise vorzuschlagen, bei der bekannte Meisterwerke mit weniger bekannten, aber dennoch hochwertigen Werken in Dialog treten.
Was ist die Mission des Orchesters und in welchem Bezug dazu steht das Programm, das Sie am 13. August in Grafenegg spielen werden?
Marshall Marcus: Es gibt zwei wichtige Aspekte, zwei Säulen des Orchesters. Die eine davon ist, nicht nur eines der besten Jugendorchester, sondern eines der besten Orchester der Welt zu schaffen. Und die andere ist es, die höchsten Ideale der Europäischen Union widerzuspiegeln. Diese beiden Dinge bestimmen jede Formulierung oder Neuformulierung unserer Vision, unseres Auftrags oder unserer strategischen Ziele, die wir haben. Das ist gewissermaßen das goldene Dreieck unserer Mission, nämlich die musikalischen Führungskräfte von morgen in Europa zu schaffen, und zwar durch junge Menschen in allen 27 EU-Mitgliedsstaaten. Wir verwandeln das Orchester in eine Metapher. Es geht nicht nur darum, eine großartige Leistung zu erbringen, sondern auch um das großartige Engagement für die Gemeinschaft. Es ist ein großartiges Lernen, eine großartige Unterhaltung. Es ist eine großartige Lektion für das Leben.