Quo vadis Europa?
Alljährlich am 9. Mai wird der Europatag gefeiertVeröffentlicht: 02/05/2025
Das hätte sich Marc-Antoine Charpentier (1643 – 1704) wahrhaftig nicht träumen lassen! Zu seiner Musik – den ersten acht Takten seines «Te Deums», um genau zu sein – würden sich die Europäer doch einmal vereinen, anstatt immer weiter um Macht und Land zu streiten. Vielleicht lag es daran, dass 1954 der II. Weltkrieg noch nicht lang vorbei war, als man seine Melodie aus dem frisch aufgefundenen barocken Werk auswählte, um die erste Europäische Rundfunkunion anzukündigen. Seither markiert sie jedenfalls für alle hörbar den Unterschied zu den furchtbaren Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als uns mit den Sprachen auch noch die Grenzen trennten, und ruft jedem Hörer schlagartig das große Projekt in Erinnerung, das so lange Zeit den Frieden in Europa sichern konnte. Am 9. Mai wird nun wieder Europa gefeiert!
L’Europe combattante
Charpentier hätte gestaunt! Denn seine Zeit war trotz der prächtigen Anlage von Versailles, wo er seinen Arbeitsplatz hatte, keine besonders friedliche: Gerade eben hatte Ludwig XIV. wieder einen Krieg angezettelt und die Pfalz verwüstet – wie schon zuvor in Holland und bald darauf noch einmal im Spanischen Erbfolgekrieg. Und eigentlich waren alle, nicht zuletzt der große Monarch selbst, kriegsmüde und völlig erschöpft, aber eine Welt ohne blutige Auseinandersetzungen konnte sich damals tatsächlich keiner vorstellen. Wie ein ewiges Gesetz folgte der Wechsel zwischen Krieg und Frieden und rief immer von neuem zu den Waffen. Auch wenn es bei diesen Kriegen noch lange nicht um Fragen der Nationalität ging, wie wir es uns heute vorstellen: Damals konnte ein französischer Adliger als Befehlshaber der Habsburger dienen, ein Bayerischer Fürst für Frankreich kämpfen, ein Deutscher in England regieren, und die Soldaten waren ohnehin zumeist Söldner …
L’Europe galante
In der Musik aber war das anders! Natürlich kennen wir auch dort Schlachtengetümmel, aber das spielte sich zumindest hinter der Szene ab, für die Besucher waren nur die Instrumente zu sehen. Die Menschen liebten zu dieser Zeit die Oper gerade deswegen so sehr, weil sich die Protagonist:innen im Drama letztendlich doch immer zur Vernunft bekehren ließen, und jene zu Siegern erklärt wurden, die zugleich auch am galantesten agierten. Bösewichte wiederum, wenn sie gar nicht nachgeben wollten, erwartete eine gerechte Strafe. Das war bei Regent:innen ebenso wie bei uneinsichtigen Priestern, aber natürlich auch bei einfachen Soldaten oder mächtigen Zauberinnen, es war also gewissermaßen universell. Denn für alle, auch für Angehörige fremder Länder, galt dieser Kodex, wobei das Entzücken der Zuschauer:innen mit dem Grad der Fremdheit gleich um ein Vielfaches anstieg wie in Jean-Baptiste Lullys «Le triomphe de Bacchus dans les Indes» (1666) oder Jean-Philippe Rameaus «Les Indes galantes» (1735). Am Schluss jedenfalls mussten sich alle Beteiligten wieder vertragen, sonst wär’s kein «lieto fine» und das Stück schlicht durchgefallen. Oder noch besser: Das ganze musikalische Drama handelt ausschließlich von Liebesgeschichten der verschiedenen Nationen wie in André Campras «L’Europe galante» von 1697, damit erst gar keiner zu Schaden kommt.
Und heute?
L’Europe unie
Von einer ähnlichen, europäischen Liebesgeschichte, die mittlerweile bereits seit mehr als 15 Jahren anhält, lebt die Idee des European Union Youth Orchestra, das seinen Sitz in Grafenegg hat, und das in diesem Sommer zwei ganz besondere Konzerte veranstalten wird. Vielleicht ist das ja der schönste Beweis dafür, dass gemeinsames Musizieren die Liebe auf lange Zeit frisch und lebendig halten kann!
Denn seit dem Jahr 1976 gibt es das Orchester, dessen Idee von Lionel und Joy Bryer stammt, um jungen Musiker:innen gemeinsam eine europäische Karriere zu ermöglichen. Und bis heute kümmert sich die EU um die Finanzen, auch wenn die Lage immer schwieriger wird, damit 120 junge Musiker:innen aus allen 27 Mitgliedstaaten jedes Jahr aufs Neue zusammenfinden. Sie sind zwischen 16 und 26 Jahren alt, können auch mehrjährig mitspielen, müssen sich jedoch alljährlich wieder um ihre Mitwirkung bewerben.
In all der Zeit seither ist die Resonanz auf ihr Spiel voller Bewunderung. Alle staunen, mit welchem Enthusiasmus und welcher Professionalität die jungen Leute aus ganz verschiedenen Ländern ihre Aufgabe erfüllen. Kein Werk, nicht einmal eine Symphonie von Gustav Mahler, ist ihnen zu schwer, ebenso wenig wie die filigranen Werke Wolfgang Amadeus Mozarts, die vom EUYO mit lässiger Eleganz zum Erklingen gebracht werden. Aber das liegt natürlich auch an den Orchesterleitern, von denen Claudio Abbado den Beginn markierte. Seither haben sich zahlreiche prominente Dirigenten um den Klangkörper bemüht, und heuer sind es nun Vasily Petrenko, der zum Abschied seiner Amtszeit das Konzert am 2. August leitet, und Iván Fischer, der zum neuen Chefdirigenten gewählt wurde und das Konzert am 16. August dirigieren wird.
«Es gibt viele besondere Grafenegg-Momente – einer davon ist, wenn das European Union Youth Orchestra am Wolkenturm sein Bestes gibt. Das Jugendorchester der Europäischen Union versteht es Jahr für Jahr, sich ins Herz des Publikums zu spielen.»
Krieg und Frieden
Beide kennen Europa aus der Perspektive ihrer östlichen Heimatländer am besten, was die Wahl der Werke bestimmt haben mag, die in diesem Sommer aufgeführt werden. Vor dem Hintergrund der vielen Krisen nehmen sich die dunklen und die hellen Seiten des Kontinents, die sich in allen diesen Werken spiegeln, wie Zeugnisse des Immergleichen aus: Auf Frieden folgt doch immer wieder nur Krieg, wenn man nicht dagegen ankämpft. Und vielleicht ist das beste Heilmittel gegen politische Dissonanzen ja tatsächlich die Verbindung der Menschen in einem gesamteuropäischen Orchester!
Besonders berührend ist es unter diesen Umständen, wenn das EUYO das Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 op. 109 von Dimitri Schostakowitsch (1906 – 1975) mit Pablo Ferrández am Cello aufführt. Denn kaum jemand hat die Düsternis des Krieges und der Diktatur so eindrücklich in Musik gesetzt wie Schostakowitsch. Schon die beiden Weltkriege, denen er während seiner Lebenszeit ausgesetzt war, hätten für die Melancholie des Künstlers genügend Material geboten. Deren tragische Auswirkung wurde allerdings von der Politik Josef Stalins, mit der er den Komponisten persönlich verfolgte, noch einmal übertroffen, sodass Schostakowitsch gegen Ende seines Daseins nüchtern bekannte: «In meinem Leben gab es keine besonders glücklichen Augenblicke, keine besonderen Freuden. Es war ziemlich grau und farblos.» Er widmete sein Konzert, das bis heute zu den Meisterwerken der Moderne zählt, dem großen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, der es am 4. Oktober 1959 in der Leningrader Philharmonie uraufführte.
Vom Glück des Friedens wiederum, und vom Glück des ungehinderten Reisens in einem friedlichen Europa, zeugt die Symphonie Nr. 8 G-Dur op. 88 von Antonín Dvořák (1841 – 1904), die sein Biograf Kurt Honolka auch einmal als die «strahlendste Manifestation der ungetrübten Lebensfreude» bezeichnete. Denn man hört ihr geradezu das Glück und den Erfolg an, den Dvořák in den späten Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts endlich erleben durfte, und der ihn an die verschiedensten Konzerthäuser der Welt reisen ließ. Die G-Dur-Symphonie erhielt zusätzlich aber auch noch den Beinamen «die Englische», weil ihn inmitten der europaweiten Verehrung die Engländer besonders überschwänglich feierten. Bei der Aufführung in der Londoner St. James Hall wurde die Symphonie im April 1890, gleich nach der Prager Uraufführung, kräftig bejubelt, und Dvořák veröffentlichte sie, sehr zum Leidwesen seines Verlegers Fritz Simrock, auch im englischen Verlag Novello. Natürlich, so möchte man anfügen, war es diese G-Dur Symphonie, die er aus Dankbarkeit dirigierte, als die Universität Oxford ihm 1891 den Doktortitel verlieh.
Europa der Regionen
Der folkloristische Reichtum Europas steht im Mittelpunkt des zweiten Konzerts des EUYO am 16. August, in dem Kompositionen des Rumänen Georges Enescu (1881 – 1955) mit seinen beiden aus Russland stammenden Kollegen Pjotr Iljitsch Tschaikowski und Igor Strawinski zusammengeführt werden. Auch unbekannte Werke sind dabei, ihre Quellen und die Zeiten der Entstehung allerdings ganz unterschiedlicher Natur.
Denn bei aller Nostalgie – erinnern wir uns recht: Volksliedmelodien waren nie romantisch! Das mögen sie in ihrem natürlichen Umfeld einmal gewesen sein, aber in dem Moment, in dem sie die Kunstmusik betraten, war es damit vorbei. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert ist die Wiederentdeckung dieses Liedguts ein Zeichen für den wachsenden Nationalismus, den gerade in den böhmischen Ländern Bedřich Smetana, Antonín Dvořák und Leoš Janáček wirkungsvoll in die Debatte einbrachten. Das mag früher bei Georg Philipp Telemann und Joseph Haydn, die beide gerne auf die Musik ihrer ländlichen Umgebung zurückgriffen, noch anders gewesen sein – doch bis zur «wissenschaftlichen» Aufarbeitung durch Béla Bartók hatten alle diese Lieder einen weiten Weg zurückgelegt. Und schon als Tschaikowski, der von seinen Kollegen in Russland, dem «mächtigen Häuflein», ohnehin der völligen Verwestlichung bezichtigt wurde, es wagte, im dritten Satz seines Violinkonzertes russische Themen vorzustellen, bemängelte Eduard Hanslick in Wien in diesem Satz umgehend einen «strengen Geruch». Dabei hielt sich der Komponist 1878 gerade auf dem Landgut seiner Mäzenin Nadeshda von Meck im schweizerischen Clarens auf, als er das Konzert schrieb, und er erinnerte sich dort, vielleicht von ein wenig Heimweh geplagt, russischer Volksmelodien.
Das war bei Strawinski ganz anders, der vor den Unbilden der Revolution endgültig in den Westen geflüchtet war, und in den Vierzigerjahren für den Film ein «Scherzo à la Russe» komponierte, das all diese Klischees mit einem Augenzwinkern behandelt. Freilich war der Krieg in Europa daran schuld, dass Strawinski in den USA keine Einkünfte aus seinen Werken beziehen konnte, weshalb er große Hoffnungen auf einen Beitrag für die Filmindustrie setzte. Doch das klappte mit keinem der beiden Werke, weder mit dem «Scherzo à la Russe» noch mit den «Vier norwegischen Impressionen», die er für verschiedene Orchesterarrangements umschreiben musste. Die Musik dazu hatte er in Notenheften bei einem Antiquar gefunden. Seine Suiten hingegen, zusammengestellt aus dem Ballett «Der Feuervogel», das noch vor dem I. Weltkrieg für Sergei Diaghilews Ballets russes in Paris geschrieben worden war, stießen von Anfang an auf enormes Interesse.
Zwischen den beiden Großmeistern Tschaikowski und Strawinski lässt sich, sowohl zeitlich als auch künstlerisch, George Enescu einordnen, der so gar nicht zum Revolutionär taugte, sondern ein durchaus erfolgreicher europäischer Kosmopolit war, so wie wir es uns heute von einem Europa der Regionen auch vorstellen. Er hatte in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Wien gemeinsam mit Alexander Zemlinsky bei Joseph Hellmesberger und Robert Fuchs, später in Paris bei Maurice Ravel studiert, so wie es erst heute wieder durch das europäische Erasmus-Programm möglich ist. Und aus der ungetrübten Vorkriegszeit seiner Laufbahn stammt Enescus erste «Rumänische Rhapsodie», die bis heute zu seinen bekanntesten Werken zählt. Er hatte damit auf eine für den Westen gänzlich unbekannte Landschaft aufmerksam machen wollen und landete damit einen Sensationserfolg. Später schätzte man ihn als Lehrer am Conservatoire in Paris genauso wie in Siena und in New York, wobei er immer wieder gerne nach Bukarest zurückkehrte – zumindest so lang, bis ihn das kommunistische Regime 1946 endgültig aus dem Heimatland vertrieb. Dagegen steht Europa und die Idee des European Union Youth Orchestra: Feiern wir es!
Vive l’Europe!
Eike Rathgeber
Stimmungsbilder
European Union Youth Orchestra · Pablo Ferrández · Vasily Petrenko
SCHOSTAKOWITSCH / DVOŘÁK
European Union Youth Orchestra
Iván FischerEuropean Union Youth Orchestra · Alina Ibragimova · Iván Fischer
ENESCU / TSCHAIKOWSKI / STRAWINSKI