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Im Interview: Philipp Stein

Die Idee zu Zeitgeist

Veröffentlicht: 02/11/2023

Grafenegg hat auch im Sommer 2023 wieder erfreuliche Besucher:innenzahlen geschrieben. Das Bewährte scheint zu funktionieren. Warum also die Idee zu Zeitgeist?

Wir wollen Leute dazu einladen, Neues auszuprobieren. Das ist schwierig, wenn man es nicht erklärt. Ziel ist nicht, unser Profil zu verwischen, sondern die Zugänge zu vereinfachen. Mit Zeitgeist wollen wir dazu motivieren, uns zu besuchen und unsere Programme wahrzunehmen. Darüber hinaus möchten wir bestehendem Publikum neue Perspektiven zeigen und es ermutigen, z. B. auch mal in Gegenden unseres Parks vorzudringen, die es noch nie gesehen hat. Dasselbe gilt für das Programm: Warum sollen nicht Leute, die immer wieder begeistert Konzerte des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich besuchen, auch mal unser anderes großes Projekt, das Grafenegg Academy Orchestra, anhören? Dazu müssen wir ihnen eine Hilfestellung bieten.

Das Augenmerk ist ein internationales Orchesterfestival mit renommierten Künstler:innen zu sein. Was tut Zeitgeist für das Grafenegg Festival?

Im besten Fall ist Zeitgeist eine Art Wegweiser, führt die Menschen auch in Konzerte, die sie sonst nicht in Betracht gezogen hätten und zeigt neuem Publikum, warum es sich lohnt, Grafenegg zu entdecken. Für uns als großes Orchesterfestival ist es außerdem wichtig, zukunftssicher zu bleiben, vor allem in Zeiten, in denen sich Fragen stellen inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, Orchester für ein einziges Konzert durch die Weltgeschichte reisen zu lassen oder welchen CO2-Fußabdruck eine Freizeitveranstaltung eigentlich haben darf. 

Auch in Zukunft brauchen wir Musiker:innen, die auf höchstem Niveau und mit Freude das machen, wovon Grafenegg lebt, nämlich klassisch Orchester spielen, die aber ebenso in der Lage sind, ihr Publikum für Inhalte über das Konzertspiel hinaus zu begeistern. Dafür haben wir die Grafenegg Academy gegründet, in der es auch darum geht, wie man ein Konzertprogramm gestaltet, wie man mit dem Publikum über die Inhalte dieses Konzertes sprechen kann und welches Repertoire es außerhalb der ausgetretenen Pfade noch zu entdecken gibt. 

Es ist der Academy in den letzten Jahren gelungen, viele junge Musiker:innen dafür zu gewinnen und auch das Publikum immer mehr dafür zu interessieren, sich einmal anzuhören, wohin sich der Orchesternachwuchs aktuell bewegt.

  • Grafenegg Academy
    Grafenegg Academy © Lukas Beck
  • Grafenegg Academy
    Grafenegg Academy © Lukas Beck
  • Grafenegg Academy
    Grafenegg Academy © Sofija Palurovic

Apropos Grafenegg Academy – wie kam es zu dieser Initiative, wie wurde daraus, was sie heute ist, und welche Wünsche für die Zukunft haben Sie?

Als mit öffentlichem Geld finanzierter Kulturbetrieb ist es uns ein Anliegen, etwas für die Bildung zu tun. Daher wollten wir uns schon früh darum kümmern, musikalische Nachwuchskräfte zu fördern. Begonnen mit einem sehr erfolgreichen Komponist:innenprogramm und unserem Workshop Ink Still Wet, war es nur konsequent, sich in weiterer Folge auch um den Orchesternachwuchs zu kümmern. Bei der Academy geht es darum, Werkzeuge an die Hand zu geben, um die nächsten Jahre in diesem Beruf, der wie jeder andere auch Höhen und Tiefen hat, zu überstehen und Spaß und Motivation beizubehalten. Denn als Musiker:in muss man sein Publikum immer mitreißen, was nur gelingt, wenn man selbst von dem, was man tut, begeistert ist. Wir haben uns mit Alina Ibragimova, Håkan Hardenberger und Colin Currie, den ersten drei Kurator:innen dieses Projekts, darüber ausgetauscht, was die Bedürfnisse von Orchestern und Musiker:innen sind und davon ausgehend dieses Programm entwickelt. 2024 wird das Kurator:innen-Team um den ersten Dirigenten, nämlich Ilan Volkov, erweitert – ein toller, bereichernder Zugewinn. Im Laufe der nächsten Jahre werden wir eine Gruppe von 10 bis 20 sich verantwortlich fühlenden, hochkarätigen Kurator:innen haben, die das Grafenegg Academy Orchestra immer in unterschiedlicher Besetzung weitertreiben. 

Meine Hoffnung ist, dass in zehn Jahren die wichtigsten Orchester dieser Welt ihre Nachwuchsmusiker:innen aus ehemaligen Mitgliedern der Grafenegg Academy besetzt haben, weil man deren fortschrittliches Weiterdenken des Kulturbetriebs schätzt. Ein Zukunftswunsch für die Academy wäre außerdem, dass sie Schule macht, andere auf den Zug aufsteigen oder wir Kooperationen finden, um das Modell zu exportieren. Und dass es nicht als Kritik an der universitären Musikausbildung verstanden wird, sondern tatsächlich als Ergänzung.

Der Composer in Residence ist zentraler Bestandteil des Festivals und von Zeitgeist. Wie wird entschieden, wem diese Aufgabe zu Teil wird? Welche Verbindung entsteht zwischen Grafenegg und den ausgewählten Komponist:innen?

Der Composer in Residence wird jährlich vom künstlerischen Leiter Rudolf Buchbinder ausgewählt. Im Fall von Enno Poppe haben wir wieder jemanden gefunden, der Komponist und Dirigent zugleich ist. Außerdem beschäftigte sich Enno Poppe in seinen Werken mit pflanzlichem Wachstum, das – so glauben wir – kommt uns als inspirierender Ort entgegen. 

Da er sich bei seinem Besuch begeistert von der Atmosphäre des Schlossparks gezeigt hat, dürfte diese Rechnung aufgegangen sein. Der Composer in Residence leitet den Workshop Ink Still Wet, sollte also Interesse daran haben, jüngeren Komponist:innen etwas weiterzugeben. Das bringt Enno Poppe ebenso mit wie die Erfahrung, wie man den Sprung von der kleinen – für Ensemble und Kammermusik – auf die große Form gestalten kann. Von der Zusammenarbeit mit ihm werden die Teilnehmenden wahnsinnig profitieren.

Welche Rolle nimmt das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich in der Weiterentwicklung Grafeneggs ein?

Das Tonkünstler-Orchester selbst sah sich, glaube ich, nicht als Spitzenorchester für zeitgenössische Musik. Das war unter anderem ein Grund, warum man ursprünglich gesagt hat, dieses Orchester muss jedes Jahr mit eine:r führenden Komponist:in ein neues Werk erarbeiten, um an der Spitze des aktuellen Musikgeschehens mithalten zu können. Alle Komponist:innen, die wir in den letzten Jahren hier hatten, von Konstantía Gourzí über Georg Friedrich Haas bis hin zu Philippe Manoury, waren und sind sich einig, dass die Tonkünstler eines der besten Orchester für zeitgenössische Musik in Europa sind und diese auch besonders ernst nehmen. Der Ruf eilt dem Orchester mittlerweile voraus, Enno Poppe ist somit durchaus bekannt, mit welchem Orchester er in Grafenegg zu tun haben wird. Die Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik lässt ganz andere Interpretationen etablierter und alter Musik zu, das merkt man den Konzerten, die das Tonkünstler-Orchester gibt, an.

Ink Still Wet
Ink Still Wet © Lukas Beck

Das European Union Youth Orchestra ist in Grafenegg stark verwurzelt, seit 2023 hat es seinen Sitz hier. Wie passt das EUYO zu Zeitgeist?

Das European Union Youth Orchestra hat eine ähnliche Rolle wie das Grafenegg Academy Orchestra, weil es sich ebenfalls intensiv um den Nachwuchs kümmert. Das EUYO sagt ganz klar: «Wir sind ein europäisches Orchester.» Aus jedem Mitgliedsland der Europäischen Union muss mindestens ein:e Teilnehmer:in dabei sein, unter der Berücksichtigung, dass es nur die besonders hochqualifizierten ins Orchester schaffen. Das ist nicht nur ein großes politisches Projekt, es funktioniert auch künstlerisch wahnsinnig gut. Das EUYO hat viele Freundschaften zwischen Europäer:innen geschaffen und trägt damit zum kulturellen und persönlichen Austausch bei. Es ist ein hervorragender Botschafter für das, was Europa kann: Menschen ins Gespräch miteinander bringen, sodass diese ihre möglichen Meinungsverschiedenheiten mit Kunst, Kultur und Sprache austragen und nicht mit anderen Mitteln.

Welche Herausforderungen hat ein internationales Orchesterfestival, wenn es um das Thema Umweltschutz geht?

Als internationales Festival hat man das riesige Thema, dass die Orchester – bestehend aus 100 bis 200 Personen – von überall auf der Welt herkommen. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, welch unfassbaren CO2-Fußabdruck eine internationale Orchester-Tournee verursacht. In Grafenegg kommt dazu, dass wir nicht im Einzugsgebiet einer Großstadt liegen und die meisten Besucher:innen mit dem eigenen Auto anreisen. Der erste Schritt zum Umweltschutz ist mit dem österreichischen Umweltzeichen gesetzt worden. 

Aber natürlich werden wir darüber hinaus weitere Maßnahmen verfolgen: Wir werden uns in den nächsten Jahren intensiv damit beschäftigen, wie man ökologisch nach Grafenegg anreisen kann. Es wird vermehrt darum gehen, sich in Partnerschaften zu begeben und wieder längere Tourneen für die Orchester zu ermöglichen, sodass ein Flug nicht für zwei oder drei Konzerte, sondern vielleicht für zehn oder elf unternommen wird. Was uns aber besonders wichtig ist, ist der kulturelle Austausch zwischen den Ländern, zwischen den unterschiedlichen Menschen – den wollen wir nicht einschränken, aber zu so geringen Umweltkosten wie möglich stattfinden lassen.

In welcher Weise trägt die Sanierung der Reitschule zum Zeitgeist bei? Warum braucht Grafenegg noch einen Konzertsaal?

Grafenegg bekommt keinen zusätzlichen, sondern einen verbesserten Konzertsaal. Ein neues Haus bedeutet immer auch neue Möglichkeiten, die Umwelt zu schützen. Das bisherige Dach wird saniert und energietechnisch optimiert. Außerdem wird der Eingangsbereich im Auditorium durch die Renovierung entlastet. 

Der Rudolf Buchbinder Saal wird zusätzlich zu den bestehenden Formaten, wie Einführungsvorträgen und Late Night Sessions, auch neue beherbergen können, in denen wir z.B. Zugänge zu unserem Programm schaffen, wie wir es bislang noch nicht tun konnten. Vieles an diesem Saal wird unserer Idee des Zeitgeists gerecht werden.

Teich und P
Schlosspark © Lisa Edi